Ein Interview mit Peter Doig von Olaf Karnik
Olaf Karnik: Um mit dem offensichtlichsten Bezug zu beginnen: Im „Blizzard Seventy- Seven“-Katalog hast Du im Anhang eine Auflistung Deiner Plattensammlung in ihrem Zustand vom November 1997 angefügt. Was war die Absicht dahinter? Hattest Du etwas Bestimmtes vor damit?
Peter Doig: Das kam auf eine ziemlich seltsame Weise zustande. Matthews Higgs war von den Organisatoren der Ausstellung gebeten worden, einen Text über Zusammenhänge zwischen den Arbeitsweisen von Musikern und bildenden Künstlern zu schreiben. Er wollte die Brücke schlagen zu der Art Musik, die ein Künstler, in diesem Falle ich, beim Malen hört. Dabei stellte er aber fest, dass das völlig unmöglich ist, denn da war ein so großes Spektrum an Musik, dass es ihm letzten Endes zu schwierig schien, eine Verbindung herzustellen.
Stattdessen hat er einfach jede einzelne Platte, jede Cassette, jede CD aufgelistet, die zu dieser Zeit in meinem Atelier in Benutzung waren. Das war also nicht meine Idee, diese Liste anzufertigen – sondern seine.
Karnik: Auf dieser Liste aus dem Jahr 1997 findet sich jede Menge Soul, Blues, Rhythm & Blues, HipHop, Jazz, Disco, aber man entdeckt auch Rock-Klassiker, Punk und New Wave, Singer/Songwriter-Sachen, und ein bisschen klassische Musik. Jenseits von Bob Marley und Mighty Sparrow gab es in dieser Plattensammlung allerdings nur sehr wenig Reggae oder karibische Musik. Um mal eine Platte herauszugreifen, erinnerst du dich noch, welche Bedeutung für dich damals „Calypso Genius“ von Mighty Sparrow hatte?
Doig: Das ist wahrscheinlich eine der ersten Platten in der Sammlung meiner Familie. Jemand hat sie im Jahr 1966 in Trinidad gekauft, wo ich zwischen 1960 und 1966 mit meinen Eltern lebte, bevor wir dann nach Kanada umzogen. Das ist wirklich eine von diesen Platten, die ich einfach immer bei mir hatte. Ich kenne jeden einzelnen Song auswendig, ich kannte das alles wahrscheinlich noch vor jedem Beatles-Song. In den frühen sechziger Jahren gab es in Trinidad nicht eben viel an Popmusik. Meine Familie hat das damals auch nicht gehört – sie hörte die Musik von lokalen Bands, in jener Zeit dürfte das in erster Linie Calypso gewesen sein. Sparrow war damals zusammen mit Lord Kitchener die Zentralfigur.
Karnik: Hast du karibische Musik dann erst wieder schätzen gelernt, als du zurück nach Trinidad gekommen bist?
Doig: Als ich vor drei Jahren nach Trinidad zog, habe ich wieder angefangen, mich mehr mit Musik aus dieser Region auseinanderzusetzen. Das lässt sich auch kaum vermeiden, die Radiosender spielen vor allem Soca, Dancehall, Reggae, HipHop und R&B, es gibt kaum Popsender. Und die spielen meisten üblen amerikanischen Rock.
Karnik: Was war der wichtigste Grund für dich, 2002 nach Trinidad zu ziehen? Was hat sich da künstlerisch für dich verändert? War das eine neue Herausforderung für dich?
Doig: Ich kam 2000 mit dem Stipendium eines Kunstzentrums hierher. Das erste Mal war ich allerdings zusammen mit Chris Ofili hier. Eigentlich war vorgesehen, dass wir hier in Ateliers arbeiten, aber wir fanden, es wäre Unsinn, drinnen zu bleiben. Man musste einfach rausgehen und sich alles anschauen. Wenn wir überhaupt im Atelier waren, haben wir Gemeinschaftsbilder gemalt. Die Außenwelt war so überwältigend, dass wir es gleich aufgeben konnten, das alles in den paar Monaten unseres Aufenthalts verarbeiten zu wollen. Die Lebensweise dort macht einen Unterschied. Eine Stadt wie Port of Spain ist einerseits ziemlich urban und verfeinert, andererseits in der nahen Umgebung sehr ländlich geprägt – sowas kennt man aus dem Westen kaum. Tag für Tag sieht man da ziemlich außergewöhnliche Dinge. Ich habe mich immer wieder auf solche Dinge zurück bezogen und einige Bilder gemalt, die sich indirekt aus diesen Eindrücken speisen. Und in den nächsten drei Jahren bin ich sechs- oder siebenmal als Besucher hierher gekommen. Zurück zu kehren und hier zu arbeiten erschien mir bald ganz selbstverständlich. Beim ersten Mal stand ich nur auf dem Balkon und betrachtete die Hügel und die ganzen Vögel. Das soll jetzt nicht so klingen, als wäre das hier eine Art tropisches Paradies – das ist es nämlich keineswegs. Aber es hat in gewisser Weise etwas Üppiges und Reiches, und gleichzeitig auch eine bestimmte Härte. Im Moment gibt es eine unglaubliche Welle von Verbrechen, die sich seit meiner Ankunft stetig verschlimmert hat. Allein in diesem Jahr soll es schon 310 Mordfälle gegeben haben, das ist ungefähr doppelt so viel wie zwei Jahre zuvor. Die Leute sind ratlos. Bis zu einem gewissen Grad hängt das, glaube ich, mit der Nähe zu Südamerika zusammen, vor allem zu Kolumbien. Trinidad liegt nur sechs Meilen vom venezuelanischen Festland entfernt. Da kommt eine Menge Kokain rüber und richtet unter den Leuten großen Schaden an.
Karnik: Glaubst du, dass das auch Einfluss auf die Musikkultur hat?
Doig: Interessanterweise scheint das nicht der Fall zu sein. Soca ist im Allgemeinen Party- Musik, da ist ein ganz deutlicher Konnex zum Karneval. Es geht also mehr um Tanzmusik als um gesellschaftskritische Kommentierung. In letzter Zeit hat es allerdings eine ganze Reihe von Stücken gegeben, die sich mit der aktuellen Situation hier auseinandersetzen. Soca lässt sich nicht so einfach in Umlauf bringen oder in andere Kontexte übertragen. Anders als Reggae mit seiner universellen Anziehungskraft beschränkt sich der Wirkungsbereich von Soca auf Trinidad. Irgendwie funktioniert Soca nur hier. Hört man diese Musik woanders, dann kommt sie einem immer zu hastig vor. Es ist schon etwas Außergewöhnliches, wenn man hier den Soca-Monarch erlebt, eine Art Wettbewerb, der im Karneval veranstaltet wird. Der Enthusiasmus ist unglaublich…
Karnik: Ist die Calypso-Tradition im Vergleich zur Popularität des Soca noch sehr lebendig?
Doig: Ja, Calypso heißt hier Kaiso, in der Stadt sieht man die Plakate an jeder Ecke. Hier scheint alles ein Wettbewerb zu sein. Es gibt Gesangs- und Musikwettbewerbe, regionale Ausscheidungswettkämpfe für den Kaiso-Monarch, die in der Karnevalszeit gipfeln, wenn die Finals veranstaltet werden. Es gibt da einen gewissen Crocro – das heißt „kleiner Fisch“ – er ist sehr politisch und militant. Andere sind lustiger, fast wie Komödianten, es gibt also eine große Vielfalt innerhalb dieses Genres. Und nicht zuletzt treten Mighty Sparrow und andere in sehr kleinem Rahmen auf, man kann deren Konzerte in schöner Regelmäßigkeit besuchen. Das Ganze ist sehr stark an die Live-Tradition gebunden. Dazu muss man aber auch sagen, dass die jungen Leute hier sich viel mehr für jamaikanische Musik wie Dancehall oder für HipHop und Soca interessieren.
Karnik: Der Karneval in Trinidad mit seinen Kostümen und Zeremonien – gibt es da Elemente, die für deine Arbeits- und Denkweise produktiv sind?
Doig: In gewisser Weise schon. In einigen meiner Bilder habe ich auf indirekte Weise Andeutungen in dieser Richtung gemacht. Es gibt zum Beispiel das Bild „Gasthof“, darauf sieht man zwei verkleidete Gestalten. Bei der einen handelt es sich eigentlich um mich selbst, bei der anderen um einen Freund von mir. Das ursprüngliche Foto von uns – in Kostümen, die wir trugen, als wir in den frühen 80er Jahren in einem Londoner Theater arbeiteten – erinnerte mich irgendwie an Fotografien aus der Kolonialzeit, die Leute in altmodischer Karnevalsverkleidung zeigen. Dagegen sind, etwa bei den afrikanischen und indischen Trinidadern, die traditionellen Karnevalskostüme viel spezifischer an eine bestimmte Platzierung hier auf der Insel gebunden. Wie als Reaktion auf Kolonialismus und
Sklaverei. Das ist eine schwierige Angelegenheit, denn man hat es hier mit einer sehr mächtigen Sprache zu tun, und ich bin mir ganz und gar nicht sicher, ob ich mir die einfach so aneignen kann. Bei meinem ersten Besuch hier waren meine Eindrücke überwältigend, aber ich habe mich schon gefragt, wie viel ich davon überhaupt benutzen könnte, denn ich wusste nicht viel von all dem. Eine andere Arbeit basiert auf Postkarten von Indien – allerdings einem sehr unspezifischen Indien -, die ich in London in einem Junk Shop gekauft hatte. Lauter Postkarten ohne Ortsbezeichnung auf der Rückseite, und alle haben mich an Trinidad erinnert. Angefangen habe ich also damit, dass ich Trinidad zunächst „by proxy“, sozusagen mit „Stellvertretern“, gemalt habe.
Karnik: Spuren bestimmter popmusikalischer Einflüsse auf deine Bilder sind relativ deutlich, selbst wenn man einmal vom bekannten Bezug deines Bildes „100 Years Ago“ zum Duane Allman-Cover absieht. Ich sehe da Spuren auf unterschiedlichen Ebenen, zu allererst bei den Titeln: „Cabin Essence“, ein Song der Beach Boys, „Country Rock“, ein eigenes Musikgenre,
„The House That Jacques Built“, das sich an den Soultitel „The House That Jack Built“ anlehnt, oder auch „Down By The River, ein Neil Young-Song. Dann gibt es unmittelbare Bezüge zur karibischen Musikkultur: Auf „Maracas“ ist der Lautsprecherturm eines Sound Systems zu sehen, „Music of the Future“ zeigt in der Ferne Kinder beim Musikmachen, wobei die Grundfarben des Bildes Rot, Gold und Grün sind – bekanntermaßen die Farben der Rastafari bzw. der äthiopischen Flagge. Oder „Ooty Boat House“ und „By The River“, die beide in den Farben der jamaikanischen Nationalflagge gehalten sind.
Doig: An den Bezug auf den Neil Young-Song oder auf die Flagge hatte ich gar nicht gedacht, aber das ist seltsam, das scheint unterschwellig zu wirken.
Karnik: Eine deiner bekanntesten Bildserien, die „Concrete Cabin“-Serie hat mich einerseits an den Wailers-Song „Concrete Jungle“ erinnert, nicht wegen seines Inhalts, sondern wegen seines Klangs, und andererseits auch an das Steel-Pulse-Albumcover zu „Handsworth Revolution“…
Doig: Interessant, all das zu hören. An solche Sachen denke ich zunächst einmal gar nicht, das passiert dann eben immer, vor allem wenn es um die Titelfindung für meine Arbeiten geht. Als ich die Liste von Matthews Higgs durchging, habe ich mich an all die verschiedenen Musikrichtungen erinnert, die ich so gehört habe, während ich die Bilder malte. Tatsächlich kenne ich nicht einen Künstler, zumindest keinen, dem ich nahe stehe, der nicht beim Arbeiten Musik hört. Das ist eines der Privilegien, die man als Künstler hat. Wie viele andere Leute können wohl Tag und Nacht Musik hören, es sei denn, sie arbeiten in der Branche? Was die „Concrete Cabin“-Serie betrifft – interessant, dass du Bob Marley erwähnt hast, denn seine Musik habe ich in dieser Zeit ganz bestimmt nicht gehört. Aber neulich habe ich einen Dokumentarfilm über die Aufnahmen zu Bob Marleys Album „Catch A Fire“ gesehen, den ich sehr interessant fand. Das war die erste LP, die Chris Blackwell, der Besitzer von Island Records, mit den Wailers produziert hat, bevor sie zu Bob Marley and the Wailers wurden. Er gab ihnen eine bestimmte Summe, um das Album in Jamaika einzuspielen. Als sie mit den Aufnahmen fertig waren, hatte er aus welchem Grund auch immer das Gefühl, dass der Sound nicht den Crossover-Appeal besaß, den er sich gewünscht hatte. Also haben sie das Album in London ein zweites Mal in veränderter Fassung aufgenommen.
Hinzugezogen wurden neue Musiker, zum Beispiel einen Typ aus Nashville, der Steel Guitar spielte und von Reggae gar keine Ahnung hatte, und noch ein paar solcher Leute. Und es sind genau deren Parts, die den charakteristischen Sound dieses Albums ausmachen. Es waren die zusätzlichen Tonspuren in der Abmischung, die die Klangdimension erweitert haben. Was die anderen Titel und Einflüsse angeht, von denen du gesprochen hast: ich glaube nicht, dass ich allzu viel darüber nachdenke, das passiert einfach in einer Art osmotischem Effekt. Aber das ist ja ohnehin die Art und Weise, wie Musik einen berührt. Ich muss gestehen, dass ich wirklich nicht der Typ bin, der besonders auf Songtexte achtet. Viel mehr interessiert mich die klangliche Seite von Musik.
Karnik: Deine Bilder wirken oft wie Kompositionen aus heterogenen Atmosphären oder Stimmungen, die man in dieser Mischung in der Realität nicht antrifft, außer vielleicht bei einem plötzlichen Wetterumschwung, wohl aber bei der Rezeption zeitbasierter Künste wie dem Film oder der Musik.
Doig: Auch hierzu kann ich nur sagen: Das ist nichts, was bewusst stattfindet. Im britischen Fernsehen gibt es eine Dokumentarreihe über die Entstehung großer Pop-Alben, und einer der Beiträge beschäftigte sich mit Lou Reeds „Transformer“, das von David Bowie und Mick Ronson produziert wurde. Das hat mich wirklich zum Nachdenken darüber gebracht, wie ein Gemälde entsteht, und über all die Dinge, die erst einmal zusammen kommen müssen, damit etwas funktionieren kann. Die Leute fragen mich immer: Wie kannst du sagen, wann ein Bild fertig ist? Aber ich meine, wie weiß man, wann ein Song fertig ist? Natürlich kann man eine gute Gesangsaufnahme und einen guten Instrumentaltrack zusammenbringen, aber das ist auch nur eine Art der Schichtung. Bei einem der Songs, ich glaube es war „Satellite of Love“, haben sie alles bis auf die backing vocals rausgenommen. Die stammten von Bowie selbst, der mit einer sehr seltsamen, irgendwie klagenden Stimme sang. Wenn man alles wegnimmt und nur noch das hört – fragt man sich, wie man auf sowas nur kommen konnte. Dabei war das ganz offensichtlich nur eine Reaktion auf all das, was er vorher gehört hatte. Aber für sich genommen, klingt das ganz außergewöhnlich und befremdlich. Es war einzig und allein die Aufnahmetechnik, ähnlich wie mit der Steel Guitar auf „Concrete Jungle“, die alles zusammengefügt hat. Alles hängt genau von solchen Entscheidungsfindungen ab, die unter Umständen ganz spontan laufen. Da gibt es vielleicht eine Verbindung zu meiner Arbeitsweise.
Karnik: Nicht zuletzt beziehst du dich auf eine spezifische Methodik der jamaikanischen Popmusik. Oft malst du Bilder in unterschiedlichen Fassungen, eine Produktions-Methode, die in Jamaika als sogennantes Versioning bis heute Tradition hat. Du hattest ja sogar mal in New York bei Gavin Brown’s Enterprise und im Kunsthaus Glarus eine Ausstellung, der du den Titel „Version“gegeben hast …
Doig: Genau, da kam der Titel her – die „versions“. Versionen zu machen bedeutet, noch einen neuen Versuch zu machen, einen neuen Anlauf zu nehmen. Warum nicht noch eine Version machen? Bei der Reggae-Musik hat man einen Riddim oder irgendwas, das zu funktionieren scheint – warum sollte man nicht nach dieser Methode auch in der Malerei zu einer neuen Version ansetzen?
Karnik: Der deutsche Künstler und Musiker Kai Althoff entwirft auch die Cover für seine Band Workshop. Wurdest jemals gebeten, ein Plattencover zu gestalten, würde dich das interessieren?
Doig: Als ich mit meiner Kunstausbildung in London anfing – dazu entschlossen hatte ich mich schon mit 17 oder 18 Jahren und stieg dann tatsächlich in meinen frühen zwanziger Jahren ein – da wollte ich eigentlich beruflich Schallplattencover gestalten. Ich hatte einfach nicht das nötige Selbstbewusstsein, mich „Künstler“ zu nennen. Und ich dachte außerdem, wenn ich schon studiere, dann sollte ich hinterher auch etwas damit anfangen können.
Vielleicht wäre das eine Möglichkeit, meinen Unterhalt zu verdienen und dabei in einem Bereich zu arbeiten, den ich wirklich mochte – die Musik. Ich habe meine Meinung dann ziemlich schnell geändert, als ich dann wirklich auf die Kunsthochschule ging und mich entschied, Maler zu werden. Und in gewisser Weise macht man schließlich ohnehin, was man wollte. So war ich tatsächlich an einigen Plattencovern für die Gruppe Pulp beteiligt. Deren Sänger Jarvis Cocker hatte einige meiner Sachen gesehen und mich gefragt, ob er einige meiner Bilder für ihre Platten verwenden dürfte. Aber extra gestaltet habe ich noch keine
Cover, würde das aber gerne mal machen. Ich bin mir sicher, dass das der geheime Wunsch vieler Künstler ist.
Texte zur Kunst, 2005