SCHALLGEMEINSCHAFT OHNE NENNER – MOUSE ON MARS / SONIG (ORIGINALFASSUNG)

Kontext 1: Das Herz schlägt rechts
Anfang März 2001 startete WDR 3 – als öffentlich-rechtlicher Platzhalter für Klassik, Neue Musik, Akustische und Elektronische Kunst bekannt – eine neue Stufe seiner sukzessiven Programmreform. Unter dem Motto „WDR Open“ hat der Radiosender auf der Abendschiene (23 bis 24 Uhr) ein neues, „offenes“ Format installiert, in dem zum Teil in Kooperation mit dem Jugendsender EinsLive entstehende, populäre Musik-Formate (von Stockhausen bis DJ Spooky…), Hörspiele und Features, aber auch weiterhin Klassiker wie das „Studio Elektronische Musik“ Platz finden sollen. Zur Vorstellung von „WDR Open“ bat WDR 3 im Februar ins Kölner Filmhaus, wo ein radiophones Vorzeigestück – nämlich „Herzarchiv“ des Autors Walter Filz – präsentiert wurde. „Herzarchiv“ ist eine knapp einstündige Collage von Herztönen aus verschiedenen Jahrzehnten der Schallaufzeichnung, versetzt mit u.a. Kommentaren von Medizinern und elektronischer Musik. Abgesehen davon, dass man sich nach kurzer Zeit fragte, was eigentlich Sinn und Zweck dieses Beitrags sein soll, und abgesehen davon, dass Filz’ Entdeckung der Sample-Technologie, die ihn voller Begeisterung das Wort „Beat“ sowie Auftakte von entsprechender Musik aus den 60er Jahren loopen ließ, unendlich provinziell wirkte, war vor allem eins auffällig: die klangakustische Suggestion einer Übereinstimmung der Töne von innen (Herz) mit dem dominanten Rhythmus von außen (Techno im 4/4-Takt). Eingerahmt von Musik, deren Rhythmus wie auf Basic Channel-Platten vor Jahren im Gleichmaß pulsierte, wurden Aufnahmen von pochenden Herztönen im Mix mit den „geraden“ Beats von Techno synthetisiert. Und dann, an anderer Stelle, kam ein Mediziner auf „pathologische Herztöne“ zu sprechen, die akustisch illustriert wurden mit: Breakbeats von afrikanischen Trommeln! Ich stand dann auf und verließ den Saal.
Man kann wohl davon ausgehen, dass sich der Konstrukteur dieses Herzarchivs nicht im Geringsten der Implikationen seiner radiophonen Spielerei bewusst ist. Nichtdestotrotz wird hier pure Ideologie produziert, die erstens nahe legt, dass es im menschlichen Körper nur einen Rhythmus gibt (Herzschlag! Was ist mit den Rhythmen von Schweißperlen? Mit welchem Beat werden Nahrungsreste durch die Eingeweide geschleust? In welchem Takt grooven die Synapsen?) und zweitens suggeriert, dass es „natürliche“, folglich „gesunde“ sowie „unnatürliche“, ergo „ungesunde“ Musik gebe. Nach dieser immer noch weit verbreiteten NS-Logik hätten wir es bei Mouse on Mars und Microstoria, Vert, Scratch Pet Land, Felix Randomiz und anderen Sonig-Künstlern mit „entarteter Musik“ zu tun.

Kontext 2: So nich!
Sonig spricht sich wie „so nich“. Was mit „so nich“ gemeint ist, bleibt unklar. Das „So“ wird nicht benannt. „So nich“ wäre demnach ein gewiefter, weil variabler Term, der zu jedem Zeitpunkt eine Relation anzeigt, innerhalb derer die bessere Alternative für sich selbst reklamiert wird. Daraus spricht eine affirmierbare Verweigerungshaltung, die dem früheren Independent-Ethos entstammt. Dieser Independent-Ethos, der bis Mitte der 90er Jahre in voller Blüte stand, umfasste ganz unterschiedliche Musikrichtungen (Industrial, Noise, Hardcore, Indie-Rock und -Pop, diverse Spielarten elektronischer Musik, radikal-politischer HipHop sowie tausend Mischformen…) und stand in Opposition zu herrschenden, großindustriellen Strukturen im Popbusiness und deren hegemonialen Musiken (z.B. Mainstream, Charts-Pop oder Viva-Techno genannt). Doch mit der Auflösung der Antipoden Underground vs. Mainstream im Siegeszug von elektronischer Tanzmusik und deutschem HipHop sowie durch die Flexibilisierung ökonomischer Strukturen in den letzten Jahren haben sich auch die Machtverhältnisse auf dem Feld der Popkultur geändert. Wer früher zu denen zählte, die vorgeblich politisch, aber vielleicht doch nur ästhetisch „nicht einverstanden“ waren, gehört heute vielerorts – strukturell analog zum makropolitischen Machtwechsel von 1998 – zu denen, die die ästhetisch-ökonomischen Spielregeln diktieren. Im Zuge dieser Machtverschiebung sind frühere Positionen und Distinktionen durcheinander geraten. Wer sich noch heute nach alter differenzästhetischer Manier was auf Minimal Techno, rare Platten oder Selbstdefinitionen von Pop einbildet, ist längst nicht mehr Teil einer deterritorialisierenden Bewegung, sondern Gutsherr oder Plattenpabst geworden. Dementsprechend ziert sich mancher vielgelobte Repräsentant „Kölner Elektronik“ mittlerweile sogar mit dem Stadtwappen der Pappnasen-Metropole.
Kanalwechsel: Welche Spielräume bleiben eigentlich noch für die 1001 Musikrichtungen, die – anders als zu Independent-Zeiten – öffentliche Räume nicht mehr beschallen? Einige dieser Klänge gruppieren sich um das von Frank Dommert, Andi Thoma und Jan Werner 1997 ins Leben gerufene Sonig-Label. Auf dessen Webside heißt es: „the artists at sonig play to their own standards, complexities, dynamics, non-linearities. there are countless musical styles and schools and there is a heavy tradition in music, which is but waiting for our collective incantations to rise to the occasion. so we are trying to dig for some freedom and launch our rockets in the spaces between.” Was heißt das konkret für die Veröffentlichungspolitik?
Frank Dommert: Es geht nicht um bestimmte musikalische Genres, es geht auch nicht um elektronische Musik, das wollen wir mit der bald erscheinenden Workshop-Platte auch unterstreichen. Uns alle hat elektronische Musik nie ob der Elektronik interessiert. Es geht im Prinzip darum, relativ charakterstarke Künstler heraus zu bringen – damit meine ich Leute, die schon ziemlich genau wissen, was sie tun und ihr eigenes Profil schon entwickelt haben.
Elektro-akustische Musik und elektronische Avantgarde bilden aber doch schon die Eckpfeiler von Sonig, oder?
Dommert: Wichtig sind diese Musiken schon. Ich sehe das aber nicht in einer Intelligent Techno-Tradition, nach dem Motto Hauptsache Elektronik. Bei Vert steht zum Beispiel das Klavier gleichwertig neben dem Computer – das finde ich auch wichtig. Denn viele der aktuellen Sachen, die rein am Computer entstehen, laufen sich tot oder wirken wie Effekthascherei.
Wie kommen Musiker von außerhalb auf euer Label, z.B. Vert aus London und Scratch Pet Land aus Belgien?
Dommert: Wir sind an die Musiker heran getreten aufgrund ihrer vorherigen Veröffentlichungen. Bei Scratch Pet Land gab es allerdings eine lustige Überschneidung – die haben uns ihre Platte geschickt, während wir versucht haben, ihre Adresse heraus zu finden. Erstaunlich ist dann, wie gut wir mit diesen Acts klarkommen – sowohl persönlich als auch künstlerisch.
Liegt das daran, dass Sonig auch eine bestimmte Haltung, ein bestimmtes soziales Milieu verkörpert?
Dommert: Für mich ist auf jeden Fall der persönliche Kontakt sehr wichtig. Ich könnte mir nicht vorstellen mit Leuten zusammen zu arbeiten, zu denen ich erstens keinen persönlichen Kontakt habe und mich zweitens nicht gut verstehe – d.h. nicht auch über außermusikalische Sachen verständigen kann. Für das Label haben wir diesen hehren Anspruch, mit den Künstlern gut klar zu kommen. Ich möchte nicht, dass das distanziert abläuft, mit ellenlangen Verträgen usw. Wir wollen schon eine gewisse kommerzielle Größe erreichen, allerdings ohne die üblichen Zugeständnisse zu machen.

Kontext 3: Granularsynthese und andere Produktionsmittel
Felix Randomiz arbeitet schon seit vielen Jahren mit Jan Werner von Mouse On Mars zusammen und formte zeitweilig mit Jo Zimmermann alias Schlammpeitziger das Duo Holosud. Seine „Goflex“-CD auf A-Musik von 1997 und seine Veröffentlichungen auf Sonig (die 12-Inch „Stack“ sowie ein Track auf der Sonig-Compilation) sind herausragende Beispiele einer ebenso architektonisch verzwirbelten wie Sound-Klischee freien Elektronik. Kein Wunder, denn Randomiz baut am Computer selbst Instrumente und passt Software an persönliche Bedürfnisse an. Von den Vorgaben der Hersteller möchte er seine Musikproduktion nicht beeinflussen lassen. „Jedes Instrument, jede Oberfläche gibt ja auch schon vor, wie man damit arbeitet. Eine Zeitlang bin ich sogar soweit gegangen, zu sagen, die eigentlichen Musikmacher sind die Instrumentenhersteller. Beispiel Drum&Bass: Das wäre alles nicht so einfach möglich gewesen ohne eine ganz bestimmte Software, mit der man Drumloops in Einzelteile zerlegen und neu zusammen setzen konnte. So hängen populäre Stile ganz stark von den Softwares ab. Zur Zeit hört man sehr viele Sachen mit Granular-Synthese. Ein gutes Beispiel dafür sind die ersten Hits von Fatboy Slim. Durch das Stretching von z.B. Stimmen bekommen die einen rauhen Klang. Diese Technik ist mittlerweile in viele Produkte implementiert, deshalb hört man das überall. Bei meiner ‚Goflex’-Platte habe ich das auch benutzt, nur musste ich damals noch an einem Sound eine halbe Stunde rechnen“, erzählt Randomiz. Sein künstlerischer Ansatz ist im Grunde typisch für die Musik, die auf Sonig erscheint. Denn hier geht es nicht nur um die Kreation von neuen Klanggebilden, die aus unüblichen Kombinationen von Ton, Geräusch, Rhyhtmus und anderen Parametern entstehen, sondern um Eingriffe in die Software und die Erfindung neuer Sound-Technologien. Wer sagt, hier werde gefrickelt, verkennt, dass es sich dabei um Audio-Politik in nuce handelt. Man kanns aber auch eine Nummer kleiner haben und den Forschergeist mit Randomiz auf einen Überdruss am Bestehenden zurück führen: „Ich möchte schon gerne was machen, das anders ist, sonst müsste ichs ja nicht machen, wenn es auch ein Anderer machen kann. Dabei vergesse ich total oft, dass 90 Prozent der Zuhörer gar keine Ahnung vom technischen Hintergrund haben und man ihnen ganz locker auch ‚normalere’ Dinge vorsetzen könnte – und das wäre immer noch interessant genug. Aber das ist nicht die Realität, in der ich stecke. Da ich mich stark im technischen Musikmacher-Kontext bewege, ist das mein Maßstab. Ich höre halt in jedem Stück raus, welche Preset-Sounds in welchen Synthesizern und welche Software die Leute verwendet haben – und mich persönlich langweilt das dann natürlich.“

Kontext 4: Ideologie und Idiot
Auf der Basis von Randomiz’ Argumentation fällt mir auf, mit welchen Klangklischees man in elektronischer Musik ständig genervt wird, vor allem wie eng sie funktionalisiert werden: für Noise mach mal Acid an, für Atmo mach mal Hall und Dub, fürs Feeling mach mal bisschen Popgesang rein. So wird das Audio-Soziale programmiert. Die Musik von Mouse on Mars lässt sich zum Glück kaum auf einen Nenner bringen. In Bezug auf aktuell dominante Musiken und Technologien verhält sie sich analytisch-kritisch; in Bezug auf unverwirklichte, vergessene, ausgegrenzte musikalische Ansätze verhält sie sich synthetisch. In diesem Spannungsfeld vibriert, zuckt, punkt und gleitet auch die neue Platte „Idiology“. 2Step-Rhythmik, Kammermusik, 60s Exzentrik, Ska, Spoken Word-Performance, spasmodelischer Elektro-Punk, das Maß klassischer Komposition in einem Stück und die Etablierung neuer Dramaturgien im nächsen – „Idiology“ besteht aus ebenso vielen Bestandteilen wie sie Hörperspektiven anbietet. Jan Werner: „Es ist teilweise auch ein Umverstehen von bestehenden Musiken, so wie eine Modulation oder Pervertierung. Die Ska-Elemente in einem Stück sind ja nicht wirklich authentische Nachbildungen, sondern Missverständnisse. Das Verständnis des Stückes besteht ja aus Teilen, die zusammen was ergeben, aber auch für sich Platz beanspruchen.“
Mit dem für mich wie gerufen kommenden Titel „Idiology“ bringen Andi Thoma und Jan Werner die Begriffe Ideologie und Idiotie ins Spiel. Dass Ideologie gerade da produziert wird bzw. am stärksten wirkt, wo man meint, sich via „Kultur“ oder „Musik“ davon zu befreien und in ein Off der freien Streamings zu begeben, hat man oben gesehen. Aber welche Rolle spielt hier der Idiot? Jan Werner: „In Berlin haben wir einen Professor getroffen, der uns den Begriff nochmal komplett auseinander gelegt hat. Der Idiot nimmt nicht an der Polis teil, will mit der Entscheidungsfindung der Gemeinschaft nichts zu tun haben und hat in dem Sinne nur seine eigene, also gar keine Politik. Das sei im Prinzip ein Widerspruch, weil die Polis den Logos prägt oder für den Logos steht, eine Sprache spricht, Sinn gibt und gemeinsam findet. Das passt auch gut. Eigentlich war hier die Idee: eine Logik oder eine Sprache der Eigenheiten, die immer wieder darauf zurück führt, dass es aus Bestandteilen besteht, dass man keine Großform finden kann, keine EINE Form.“

Text: OLAF KARNIK

Intro, 2001