Die Befreiung der Musik vom Film (Originalfassung)

Überall wird gegenwärtig das Lied vom Tod der CD gespielt. Doch der Soundtrack-Markt boomt wie schon lange nicht mehr – hier behauptet sich die CD als Sammler-Objekt. Vor allem italienische Soundtracks aus den 60er und 70er Jahren gewinnen immer mehr Fans, die vom spezialisierten Online-Versandhandel bestens bedient werden.

Wer erinnert sich an die Musik des brutalen Italo-Cop-Thrillers „Il Cittadino Si Ribella“ von 1974? Wer kennt überhaupt Streifen wie „Macchie Solari“ oder „L’Alibi“, für deren Soundtracks Ennio Morricone verantwortlich zeichnete? Und warum sollte sich jemand für die Filmmusik zu einem zweitklassigen Science Fiction-Thriller wie „La Macchina Della Violenza / The Big Game“ interessieren? „Vom Film kann man nur abraten, der würde selbst Freunden des Trash nicht gefallen“, erklärt Christian Riedrich, Inhaber von Chris Soundtrack Corner, einem der führenden Online-Soundtrack-Shops in Europa. „Allerdings ist die Musik von Francesco de Masi wirklich gut, der gehört ja zu den bekanntesten italienischen Soundtrack-Komponisten.“

Sehnsuchtsepoche
„The Big Game“ von Francesco de Masi ist die erste Eigenveröffentlichung von Chris Soundtrack Corner in Berlin – ein Nebengeschäft des Online-Versandhändlers, das man sich aus purer Begeisterung für rare und wertige Soundtracks aus dem sogenannten Silver Age der Filmmusik leistet. Der Begriff Silver Age wurde von der renommierten Fachzeitschrift „Film Score Monthly“ geprägt und bezieht sich auf Veröffentlichungen aus der Zeit nach 1965. Die Ära davor, mit Komponisten wie Elmer Bernstein, Dimitri Tiomkin, Bernard Herrmann oder Henry Mancini, gilt als Golden Age. Natürlich hat man auch Veröffentlichungen der goldenen Ära im Programm, der Fokus aber liegt auf den 60er und 70er Jahren – jene mit Utopien aufgeladene Sehnsuchtsepoche der Popkultur, die nicht aufhört, neu entdeckt und wiederverwertet, umgeschrieben und re-interpretiert zu werden. In den Soundtracks jener Zeit und ihrer besten Komponisten (Ennio Morricone, Jerry Goldsmith, John Barry oder Lalo Schifrin) findet sich schließlich in kondensierter Form fast das gesamte Spektrum an damals zeitgenössischer Musik – von Beat und Rock über Jazz und Funk bis zur neutönenden Avantgarde. An jene Virtuosität und Spielfreude im Umgang mit Stilen und musikalischen Sprechweisen reichen zeitgenössische Top-Komponisten wie Hans Zimmer nicht annähernd heran. Die strenge Formatierung von Filmmusik lässt dies heute wahrscheinlich auch kaum mehr zu.

Der Tarantino-Effekt
Wie eine Einführung ins Kernprogramm von Chris Soundtrack Corner klingt „The Big Game“ von 1972: Psychedelische Gitarren und Blaxploitation-Funk, orchestraler Pop, Easy Listening-Exotismus und Lounge-Eleganz, Krimi-Jazz und Agentenfilm-Glamour. Musik aus Thrillern und Horrrorfilmen, (Italo-)Western, amerikanischen und italienischen Polizei-Filmen oder japanischen Yakuza-Movies wird von den Kunden ebenfalls sehr geschätzt. Einst belächelte Genres gelten heute als „Kult“, und so verhält es sich auch mit ihren Soundtracks. Nicht zuletzt hat ein Regisseur wie Quentin Tarantino zu deren Popularität beigetragen, denn seine Soundtracks verzichten seit jeher auf einen eigenen Score und recyclen stattdessen obskure Filmmusiken besagter Genres. Tarantino selbst habe sich wiederum von den Soundtrack-Compilations des italienischen Easy Tempo- Labels inspirieren lassen, was Interessenten schließlich auf die Originale von Komponisten wie Morricone, Piccioni oder Bacalov aufmerksam gemacht habe, weiß Riedrich. „Überhaupt Morricone – jede Veröffentlichung von ihm, sei es auch nur die dritte Ausgabe mit einem neuen, zusätzlichen Bonus-Track, ist eine sichere Bank. Das gleiche gilt in den USA für Jerry Goldsmith. Am besten ist es, wenn der Komponist beliebt, der Film beliebt und die Musik qualitativ gut ist. Es reicht aber auch aus, wenn lediglich ein Kriterium erfüllt ist, nur wird die Zugkraft eines Scores dann kleiner“, erklärt Riedrich das Kaufverhalten seiner Kunden.

Die Musik lebt weiter
Wenn Riedrich einen gegenwärtigen Boom im Soundtrack-Markt konstatiert, dann ist das natürlich relativ. Denn die durchschnittliche Auflage eines Retro-Soundtracks bewegt sich zwischen 500 und 1.000 Stück in europäischen Ländern wie Italien, wo Labels wie Digitmovies, GDM, Beat Records oder Cinevox eine besonders aktive Veröffentlichungspolitik betreiben. In den USA sind es Firmen wie Varèse Sarabande, Intrada, FSM, SAE oder La-La Land, die zwischen 1.500 und 3.000 Exemplare herstellen. Das Prinzip „Digging statt Download“ (siehe auch NZZ vom 16. Mai) gilt auch auf dem Soundtrack-Markt. Hier ist die CD als Sammler-Objekt weiterhin begehrt, Downloads sind hingegen verpönt. Ob bei Soundtrack Corner und bei alteingesessenen Händlern wie Tarantula (seit 1988) oder Soundtrack Club / Barbarella Media (seit 1986) in Deutschland, bei Intermezzo Media in Italien, bei Movie Grooves in England oder Screen Archives in den USA – Filmmusikkäufer frönen nicht nur nostalgischen Interessen. Ihre Sammlerleidenschaft hat eine Wertschätzung der Komponisten hervorgebracht, die diesen zu einem Ansehen jenseits ihrer Funktion als akustische Illustratoren des Filmbildes verholfen hat. Und in den meisten Fällen gilt: Mag der Film auch längst vergessen sein, die Musik lebt weiter auf CD.

NZZ, 18.07.2008