Auf „Replay Debussy“ versuchen sich Avantgarde-Pioniere und zeitgenössische Elektroniker an Neu-Interpretationen von „Prélude à l’Après-midi d’un Faune“
Als Claude Debussys Vertonung von Mallarmés Gedicht „Der Nachmittag eines Fauns“ 1894 in der Pariser Société National Premiere feierte, wurde sein gut zehnminütiges Präludium zu einem nie vollendeten Orchesterwerk so frenetisch gefeiert, dass es gleich nochmal gespielt werden musste. Seitdem hat sich das Stück zum echten Klassikhit entwickelt und liegt heute in etwa 90 ähnlichen Einspielungen vor. Für Christian von Borries, Produzent der „Replay Debussy“-CD war es also an der Zeit, das Meisterwerk aus seinem „hermeneutischen Gefängnis zu befreien“ und es durch neun Neu-Interpretationen wieder zum Schimmern zu bringen. So wie vor 100 Jahren. Damals wirkte Debussys Tonsprache aufregend neu – sie bestach durch tonale Ambiguität, durch dem Impressionismus in der Bildenden Kunst vergleichbare Klangmalereien sowie durch eine ungewöhnliche Orchestrierung, die auf die üblichen Pauken und Trompeten verzichtete und stattdessen eher vernachlässigte Instrumente wie Flöte und Harfe ins Klangzentrum stellte.
Debussy ließ seiner Begeisterung fürs Exotische – durch die Begegnung mit indonenesischen Gamelan-Orchestern auf der Pariser Weltausstellung 1989 entscheidend beeinflusst – freien Lauf. Hinzu kam eine verführerisch-erotische Komponente, typisch für Mallarmés symbolistische Poesie. Als Verweis auf Debussys Inspirationsquellen ertönen dann auch Gamelan-Klänge und Passagen von Mallarmés Gedicht zu Beginn von „Replay Debussy“.
Werke wie „L’Après-midi d’un Faune“ führten das Fließen, Schimmern, Schweben, kurz: das Uneindeutige in die europäische Klassik ein und unterminierten deren ton- und klangsprachliche Architektur. Zur Zeit spätromantischen Virtuosentums setzte Debussy das Orchester im wahrsten Sinne des Wortes als „Klangkörper“ ein – nicht die Auslotung des tonalen Systems noch die Dramatisierung von Rhythmik standen im Vordergrund, sondern Flow und Sound – sehr moderne Ideale also. Als „Erweckung der Moderne“ hat Pierre Boulez dann auch „L’Après-midi…“ bezeichnet. Der britische Musikjournalist und Buchautor David Toop entdeckte in Debussy, neben Erik Satie, gar den Urvater heutiger Ambient-Musik – davon zeugt ja auch die häufige Verwendung von Debussy als Fahrstuhlmusik oder als akustische Kulisse für Natur- und Tierfilme im Fernsehen. Für Pierre Henry, vor einem halben Jahrhundert Mitbegründer der Musique Concrète und auf „Replay Debussy“ auch mit einer Version vertreten, gilt schließlich: „Everything that music is attempting today has ist origins in Debussy’s technique of sound.“ („Alles, worauf die Musik von heute aus ist, hat seine Ursprünge in Debussys Technik mit Sound umzugehen.“ – falls eine Übersetzung nötig ist, der Verf.)
Das von der Plattenfirma Universal clever lancierte CD-Projekt samt Launch-Party im Berliner Café Moskau und in schicker DVD-Verpackung will die Musik des französischen Komponisten an unterschiedlichen Fronten revitalisieren – innerhalb der Klassikszene und besonders in Kreisen aufgeschlossener Elektronikhörer. Das zeigt schon die Palette der Mitwirkenden. Einerseits findet sich hier avantgardistisches Urgestein wie Alvin Lucier, Pierre Henry oder Ryuichi Sakamoto, andererseits zeitgenössische Elektroniker wie Terre Thaemlitz, Jamie Lidell (von Super_Collider) oder das Techno-Duo Porter Ricks. Dass sich deren Versionen trotzdem nicht allzu sehr voneinander unterscheiden und den harmonischen Sturkturen des Werks im weitesten Sinne folgen, liegt auch daran, dass die Mitwirkenden an strenge Vorgaben gebunden waren. Beats unter die Musik zu legen, war verboten, wäre wohl auch zu platt gewesen und hätte zudem den konservativen Klassikkäufer abgeschreckt. Ebenso wurde das Quellenmaterial vorgegeben, u.a. handelt es sich dabei um historisch-knisternde Mono-Aufnahmen aus der ersten Hälfte des 20.
Jahrhunderts. Das Knistern der alten Aufnahmen machen Terre Thaemlitz und Jamie Lidell dann auch produktiv, indem sie es als Regen ähnliche Kulisse oder zur Rhythmisierung verwenden.
Dies dürfte ganz im hippen Sinne von Produzent Christian von Borries sein, der sich damit auf der richtigen Seite moderner Material- und Geräuschästhetik wähnt, wie sie gegenwärtig in der Elektronik-Szene definiert wird. Auch die unverfrorene Neu-Bearbeitung klassischen Materials ist
in diesen Kreisen schon seit längerem virulent – man denke nur an Mike Inks Ambientisierung von Schönberg und Mahler mit seinem Projekt Gas, an Ekkehard Ehlers’ konzeptuelle Soundmanipulationen von Charles Ives und Schönberg oder an Akira Rabelais’ Erik Satie- Hommagen. Umgekehrt hat Terre Thaemlitz mit seinen Midi-Klavier-Adaptionen von Kraftwerk-, Gary Numan-, und Devo-Stücken – im Sound und mit der Geste klassischer Musik – den ästhetischen Kanon zeigenössischer Elektronik erweitert. Ohne all diese Pioniertaten an der Grenze von E- und U-Musik würde es dieses Debussy-Projekt gar nicht geben.
Genau an dieser Schnittstelle funktioniert „Replay Debussy“ aber ganz gut. Es mag zwar ermüden, neunmal hintereinander die gleichen Harmonien zu hören, dafür liegt der Schwerpunkt des kreativen Eingriffs auf der Ebene der Soundgestaltung – ganz im Sinne Debussys. So versteckte Altmeister Alvin Lucier Mikrophone in antiken Vasen und nahm die Schwingungen auf, die beim Abspielen von „L’Après-midi…“ in anderen Räumen entstanden. Paul Paulun ergänzt Debussys Stück lediglich um Geräusche, die er in Nord-Indien aufnahm: Tierstimmen, Gespräche, Fahrradklingeln. Das klingt banal, weist der Musik aber eine filmmusikähnliche Funktion zu, die die Aufmerksamkeit auf das Geschehen lenkt und den Zuhörer nach narrativen Elementen forschen lässt. Und bei Ryuichi Sakamotos repetitiven Loops entsteht im Zusammenhang mit der Rezitation des Gedichts eine erotische Spannung, die weit über das Original hinaus geht: zirkuläres Begehren, das keine Erfüllung findet. Bei genauerem Hinhören lassen sich auf „Replay Debussy“ also genügend Momente finden, die dank digitaler Technik und methodischem Vorgehen aus Debussys Komposition herauskitzeln, was darin eh schon angelegt, bloß noch nicht hörbar war.
FR, 02.04.2003