Die Reggaekultur – sie wird gehegt und gepflegt auf der ganzen Welt, mittlerweile können selbst Deutsche und Italiener mithalten. So schloss Sebastian Sturm aus Aachen mit „One Moment in Peace“ dieses Jahr mühelos an die von Altmeister Dean Fraser und seinen Schützlingen (u.a. Taurus Riley, Duane Stephenson) angeführte Roots- Renaissance in Jamaika an. Gleiches gilt für Alberto D’Ascola alias Alborosie, der 2001 von Sizilien nach Jamaika emigrierte und sich in den letzten Jahren mit eigenem Studio und Label in Kingston etablierte. In seiner Reggae-Verehrung ist Alborosie endlich angekommen, wo er schon immer hin wollte: „Es ist schön, in Europa Reggae zu machen, aber wenn man nach Jamaika kommt, spielt man in der ersten Liga.“ So träumten sich auch nicht wenige britische Dubstep-Produzenten in den letzten Jahren Sound-architektonisch auf die karibische Insel, flankiert von Magazinen wie „Woofah“, das einer jungen Generation von Soundboys die Reggae-Historie aufbereitet. Stop rewind, play it from the top! Denn via Dancehall kann man seit ein bis zwei Jahren verfolgen, wie im Heimatland des Reggae wieder mal eine neue musikalische Revolution ausgebrochen ist. Sie wird angeführt von Artists wie Vybz Kartel, Mavado oder Busy Signal und von Produzenten wie Stephen McGregor, Daseca oder Shawn Scott; sie rollt die jamaikanische Musikindustrie via Home Recording von unten auf und spielt den rulenden Sound in den Ghettos von Kingston; sie entthronisiert langsam sogar die langjährige Dancehall Dons Bounty Killer, Beenie Man, Buju Banton oder Capleton.
Rückte letztes Jahr Mavado die neue Deejay-Generation via Album auch international ins Blickfeld, so war 2008 das Jahr für Busy Signal (dt: Besetztzeichen). Sein zweites Album
„Loaded“, von all den angesagten Produzenten abgemischt und produziert, wird in späteren Jahren mal als Dancehall-Klassiker der Nullerjahre gefeiert werden, präsentiert sich doch hier der neue Dancehall-Sound in ausgereifter Form. „Loaded“ versammelt all die epochalen Hymnen der Saison (u.a. „Jail“, Unknown Number“ oder „Knocking At Your Door“), allesamt Paradebeispiele für die futuristische Pop-Vision, der Dancehall verfallen ist. Dieser Sound klingt wie aus Klingeltönen und anderen Signalen komponiert, durchweht von einfachen Synthie-Melodien und federleichten HipHop- oder Break-Beats, aufgemotzt mit dem von Cher bekannten Auto-Tune-Effekt. Dabei ensteht eine Stimmung, die permanent schwankt zwischen Gangsta-paradiesisicher Lebensbejahung, lyrischer Selbstermächtigung gegen eine Verbrechensorganisation namens Polizei und tiefer Melancholie angesichts tausender Erschossener, die die Friedhöfe Jamaikas auch dieses Jahr wieder bevölkern. Von der Reggae-Vision eines Dean Fraser, Sebastian Sturm oder Alborosie ist dieser ultra-glamouröse Avantgarde Trash meilenweit entfernt, auch wenn Letzterer hier als Gastsänger mitwirkt – bezeichnenderweise beim letzten Stück.
Schließlich suspendiert dieser Sound sogar das tragende Element aller jamaikanischen Musik der letzten Jahrzehnte – den Bass. Aber das macht gar nichts, Busy Signals einzigartiger Vokalstil (man höre nur „Knocking At Your Door“) hält alles zusammen. Und auch das Minenfeld der Homophobie und gewaltveherrlichenden Gun Tunes wird von Busy konsequent vermieden – nach eigener Aussage nicht nur in Hinblick auf internationale Kompatibilität, sondern aus Überzeugung. Wer dieses Jahr auch nur eine jamaikanische Platte erstehen möge, dann diese.
Spex, 2008