Roundtable Sound Systems

„Wir haben nach Jamaika geguckt, vielleicht guckt die nächste Generation auf uns…“

Ein virtuelles Roundtable-Gespräch zur Sound System-Kultur in Deutschland (unveröffentlichte Langfassung)

Wie seid ihr dazu gekommen, einen Sound (= Sound System) zu gründen? Welche stilistische Ausrichtung und welche Professionalisierungsschritte gab bzw. gibt es?

Ingo (Pow Pow): Wir haben uns Ende der 80er, Anfang der 90er Jahre formiert, das waren damals Alfred Eskes und ich. Wir standen auf Reggae und haben mit unseren Platten einfach eine Party organisiert. Hier in Köln gab’s sowas noch nicht wirklich. Das
war von Anfang an gut besucht, das Feedback war enorm, es gab soviele Leute, die sich in dieser Richtung bewegten. Die Szene kam in Köln zusammen, man kannte sich dann nach zwei, drei Parties untereinander, weil immer die gleichen Leute da waren. Dann kamen wir erst dazu, wirklich ein Sound System zu gründen. Der nächste Schritt war dann, dass wir 1990 nach Jamaika geflogen sind, um ganz tief in diese Kultur reinzuschauen. Es kommt ja nunmal aus Jamaika, und es war uns sehr wichtig, dass wir direkt den Ursprung finden und sehen, wie ist der Vibe, was passiert da? Das war sehr abenteuerlich, vermatschte Straßen, alle barfuß, aber Riesenboxentürme von Sounds, wo irgendwelche Gestalten draufstanden – für uns war das ein total prägendes Erlebnis.
Dann hatten wir noch das Glück, dass uns ein Veteran Sound aus Montego Bay eines Abends eingeladen hat und uns die Ursprünge von Sound Systems aufgezeigt hat. Von da an waren wir dieser Kultur erlegen und wollten das hier in Deutschland fortführen. So authentisch wie möglich, das war uns schon wichtig.
Professionalisierung gab es in dem Sinne, dass wir uns weiterentwickelt haben. Die Idee, mit Kumpels ein Sound System zu machen aus Liebe zur Musik, war am Anfang, und das ist es auch heute noch. Aber über die Jahre sind wir zu einem kleinen, mittleren Unternehmen geworden.

Oliver (Silly Walks): Unser erste Party als Silly Walks haben wir am 12. Juli 1991 gemacht. Es gab damals überhaupt keine Clubkultur, in der Reggae geboten wurde. Das einzige, was es manchmal zu hören gab, waren Reggae/Dancehall-Kombinationen mit HipHop. Das war uns aber zu wenig. Andererseits gab es Live-Konzerte mit überwiegend Roots Reggae. Und das war uns zu hippyesk. Wir wollten Reggae spielen, fühlten uns aber eher den HipHoppern zugehörig. Eine Trennung zwischen Sound System und Plattenauflegen gab es damals noch nicht. Wir wollten auflegen und das Kind sollte auch einen Namen haben. Ich selber hatte keine konkrete Vorstellung, was das eigentlich ist, ein Sound System. Aber wir haben uns dann mal so genannt, Silly Walks Sound System. Der Name kommt von einem alten, besetzten Bürohaus, das fast leer stand. Im dritten Stock wurde eine Party-Location besetzt, und da darunter so ein schöner Setzkasten war, wo früher die Kanzleien und Agenturen ihre Handschläge hatten, wurde das Ding dann
„Ministry Of Silly Walks“ getauft, nach einem alten Monty Python Sketch.

Knut (Soundquake): Wir sind 1992/93 dazu gekommen. Zu der Zeit war David Rodigan einmal im Monat zu Gast im Neon’s in Bielefeld, da sind wir immer tierisch abgefahren. Zu dieser Zeit gab es auch unsere ersten Urlaube in Jamaika. 1994 haben wir unser erstes Dubplate gemacht, da musste ein Name her, unserem Selecter Raffael fiel Soundquake ein – und so heißen wir bis heute.

Panza (Supersonic): Ich habe seit Ende 96 ziemlich intensiv Dancehall und Reggae gehört. Als ich dann 1998 mit Mixtapes anfing, brauchte ich einen Namen und mir fiel Supersonic ein. Bald gab es erste Booking-Anfragen. Bei meinem zweiten Dance kam Spider, der damals noch bei einem anderen Sound war, auf die Bühne und hat sich das Mikro geschnappt. Seitdem machen wir das zusammen, später kam noch Uzzla dazu und 2005 Daddy Fire?. Seit 2003 können wir alle größtenteils vom Sound System leben.

Elmar (Sentinel): Infiziert mit dem Reggae-Virus habe ich mich Anfang 95, als ich mit ein paar Freunden zum ersten Mal in Jamaika war. Ich war sehr beeindruckt, was Sound System im original style bedeutet, wie das auf Jamaika funktioniert. Damals hörte ich viel Drum & Bass und Ragga Jungle, es gab also schon Berührungspunkte. Mit einem Stone Love-Tape (= stilprägendes Sound System aus Jamaika) kam ich aus Jamaika zurück, das ich mir intensiv angehört habe. Drei Jahre später kam ich mit Nadia zusammen, die
auch schon einen großen Reggae-Background hatte. An Anfang haben wir einfach nur Platten gekauft, es gab noch nicht das große Ziel, einen Sound zu gründen, das kam dann 1998. Seitdem sind wir stetig weiter gegangen, haben unsere Selections überarbeitet und Erfahrungen gesammelt, wie man in welchen Teilen der Welt für das Publikum spielen muss. Und das ist auch heute noch so.

Wie würdet ihr heute ein Sound System definieren, welche Kriterien sollte es erfüllen?

Ingo (Pow Pow): Wie das Wort Sound System schon sagt, ist das von der Grundidee her mit dem Besitz einer eigenen Anlage verbunden. In Jamaika hat man ein Sound System noch richtig aufgebaut, die Technik war erstmal entscheidend, vor allem Verstärker und Boxen. Plattenspieler gab’s früher nur einen. Diese Kultur ist leider über die Jahre ein bisschen ausgestorben. In England gibt es das noch, hier eher nicht. Wir haben unten im Keller noch unsere Bassrutschen stehen, weil wir damals ein eigenes Sound System besessen haben, aber über die Zeit hat sich gezeigt, dass wir es nicht mehr brauchen. Das steht jetzt mehr zum Anschauen in der Ecke. Ansonsten definiert sich ein Sound Systems heute so: Wenn du deine ersten Platten kaufst und Turntables und Mischpult hast, kommt als nächstes schon die Überlegung, wie man sich nennt. Das ist heute der Grundgedanke eines Sound Systems. Ich finde, dass da allerdings viel mehr dazu gehört. Panza (Supersonic): Zu einem Sound System sollte auf jeden Fall ein MC gehören – ein Moderator, der die Tunes entsprechend ankündigt. Die Leute sollten sich auch darauf einstellen, dem MC zuzuhören, weil der nicht nur wild rumbrabbelt, sondern im Idealfall wirklich was zu sagen hat. Insbesondere neue Tunes brauchen eine Intro-Speech, damit die Leute gleich wissen, worum es da geht. Bei Dubplates bin ich der Meinung, dass das jedem selbst überlassen sein sollte. Mit Dubplates kann man sich relativ einfach individualisieren, ansonsten sollte man ein wenig Ahnung von der Musik und dem, was die Leute hören wollen, haben. Es ist wichtig, dass man auf die Leute eingehen kann und nicht bloß sein Programm abspult.

Oliver (Silly Walks): Extra eingespielte Sound-Effekte finde ich auch gut. Das wird aber von den meisten Sounds vernachlässigt, wenn die klangliche Aufbereitung dessen, was man spielt, eine andere ist als einfach die Platte aufzulegen. Das ist ein Schritt Richtung echtes Sound System, den zu wenige deutsche Sounds heute gehen.

Die nächste Frage richtet sich besonders an die Veteranen-Sounds, die schon seit 10 bis 15 Jahren aktiv sind. Anfang der 90er Jahre fristete Dancehall und Sound System- Kultur in Deutschland noch ein absolutes Nischendasein.Welche Schwierigkeiten und Chancen gab es damals, wie habt ihr euch Techniken und Wissen angeeignet, wie seid ihr an Platten gekommen usw.?

Knut (Soundquake): Anfang der 90er Jahre gab es ja nur drei Plattenläden in Deutschland, da war es schon schwierig, überhaupt an Platten zu kommen. Als Sound musste man damals nicht nur unterhalten, sondern den Leuten die Musik überhaupt erst beibringen. Ragga oder Raggamuffin nannte man das damals. Es ist halt schwierig, wenn die Musik weder im Radio läuft, noch normal zu kaufen ist, mit Ausnahme der damaligen Top-Artists im Reggae. Damals waren das eher Jugendzentrums-Veranstaltungen oder man hat irgendwo einen Keller gemietet. Am Anfang waren nur 20 Leute da, dann hat sich das rumgesprochen und es sind immer mehr geworden.

Oliver (Silly Walks): In England hat man ein Reggaeplatten-Einkaufsparadies vorgefunden, das war damals eine wichtige Quelle. Da gab es coole Läden, und das Pfund war damals noch nicht so teuer. Man konnte mit der Fähre damals noch täglich von Hamburg fahren oder mit Rainbow Tours für 99 DM. In England habe ich auch die ersten jamaikanischen Sound Systems gesehen, und dann gab es englisches Piratenradio oder Kassetten von Piratenradios. Dazu gab es „Irie Records“ in Münster. Die hatten zwar ein gutes Programm, weniger 7-Inches, mehr Maxis, aber schlechte Beratung. In Berlin gab es „Downbeat“, die ab und zu neues Zeug aus Jamaika bekamen, wo man sich aber als Telefonkunde nicht darauf verlassen konnte, dass einem das auch wirklich gefällt, was man da bestellt. Also war alles unerhört mühsam.

Ingo (Pow Pow): Aber das A und O war nach Jamaika fahren, den ganzen Tag im Plattenladen stehen, sich Singles anhören und kistenweise mit nach Hause bringen. Das hat da drüben ja auch nichts gekostet, es war schon recht abenteuerlich. Die Anfänge
waren insofern schwierig, als dass es hier kein wirkliches Publikum gab, nur eine Fangemeinde. Und mit denen haben wir angefangen, am Wochenende Freiluft-Parties zu feiern. Wir haben Flyer verteilt, am Rheinufer unser Sound System aufgebaut und für die Leute Musik gemacht. Das war der Grundgedanke, wir wollten halt wirklich Jamaika- Feeling erzeugen und unabhängig sein – deswegen auch die eigene Anlage. Ich glaube, wir waren dann 1995 der erste deutsche Sound, der den Schritt gewagt hat, wöchentlich einen Club mit Reggaemusik zu beschallen und zu gucken, dass wir uns eine Szene aufbauen. Das hat sich rumgesprochen, und so kam es dann, dass wir mit der Zeit unsere ersten überregionalen Bookings bekamen. Wir haben auch früh angefangen, auf dem Summerjam zu spielen, so haben wir uns nach und nach einen Namen gemacht.
Das war alles sehr mühselig, aber hat auch viel Spaß gemacht.

Wann war die deutsche Sound System-Kultur soweit entwickelt, dass sie auch international mithalten konnte – sowohl in Bezug auf Juggling Dances als auch bei Sound Clashes (= erklären)?

Ingo (Pow Pow): Dieses internationale Ding ist erst seit Ende der 90er Jahre möglich. Ich glaube, 2000 waren wir das erste weiße Sound System, das am World Clash (= erklären) teilgenommen hat. Es war damals überall talk of the town, dass ein paar Weißbrote aus Germany beim World Clash mitmachen. Bei diesem Clash-Ding hatten wir überhaupt keine internationale Erfahrung, wir sind da blauäugig rein. Von Japan über ganz Europa hat man dann mitbekommen, dass ein europäischer Sound mitgemacht hat. Aber das wäre nicht möglich gewesen, wenn man nicht vorher schon gerüstet gewesen wäre, um da wirklich auch was zu reißen. Und ich glaube, das hat viel ausgelöst damals – tausende Sounds haben uns dafür bewundert, dass wir soweit gekommen sind und seitdem, und zum Teil auch schon vorher, ganz stark daran gearbeitet. Nach 2000 hat sich die internationale Szene so verändert, dass es auch möglich war, überhaupt an Dubplates ranzukommen und diese Sache so zu finanzieren, dass es heute im Grunde jedem Sound möglich ist, so einen Clash zu gewinnen.

Elmar (Sentinel): Die Frage berücksichtigt einen zentralen Aspekt nicht, der ab ca. 2000 dazu gekommen ist und die Möglichkeiten der Sound Systems verändert hat – das sind die Medien. Zum Einen das Internet, zum Anderen Print-Magazine wie Riddim oder auch internationale Magazine. Das hat die Möglichkeit eröffnet, Leute außerhalb von Deutschland überhaupt erst mal wissen zu lassen, was hier geht. Vorher war das gar nicht bekannt. Soundquake produzieren schon so lange Dubplates, aber das war immer ein reines Liebhaber-Ding. Da gabe es sicherlich nicht die Intention, mit einem Buju Banton-Dubplate in den USA oder Japan zu spielen. Daran hat man gar nicht gedacht. Mit einem Mal, als das Internet mit Foren international wurde und digitalisierte Musik über MP3 ins Internet fließen konnte, hat uns das allen die Pforten geöffnet. Als die Welt aufmerksam wurde auf Reggae in Europa und auf Deutschland als Vorreiter in Sachen Sound System, dachten alle: Wow, die haben ja Dubplates, die machen das schon ewig. Von daher konnte man ab diesem Zeitpunkt auch mitmachen. Man musste nicht bei Null anfangen, sondern war schon vorbereitet.

Ist die Produktion von Dubplates und die Teilnahme an Sound Clashes für jedes Ernst zu nehmende Sound System zwingend? Worin besteht für euch der Reiz an Sound Clashes bzw. warum besteht keiner (mehr)?

Oliver (Silly Walks): Dubplates sind ein Sound System-Charakteristikum, das eine schöne Sache ist. Damit kann man sich branden, da kann man kreativ sei, indem man Gesang und Riddim neu kombiniert und womöglich richtige Specials bekommt, Stücke, die es nicht auf Platte gibt. Wir selber haben Ende der 90er Jahre aufgehört, Dubplates zu machen. Uns ist das zu inflationär geworden. Wir haben festgestellt, dass wir immer mehr Geld bezahlen müssen und an Wert weniger und weniger bekommen, weil immer mehr Leute Dubplates gemacht haben und es dadurch immer weniger besonders wurde. Das ist eine Spirale, aus der wir lieber ausgestiegen sind. Der Auslöser war 1998/99 ein Artikel in der Spex, wo ich den sagenhaft behämmerten Satz gelesen habe: „Die Qualität eines Soundsystems erkennt man an der Anzahl der Dubplates“. Wir waren so empört, dass wir gesagt haben: Scheiß drauf, wir machen das anders.
Panza (Supersonic): Um wirklich international mitspielen zu können, muss man an Clashes teilnehmen oder zumindest mitgemacht haben. Das sind die Events, auf die wirklich geschaut wird, das sind die Tapes, die wirklich kursieren. Man kann über Jahre hinweg jugglen wie man will, dadurch macht man sich nicht so einen Namen wie durch einen gewonnenen Clash. Gut jugglen können viele Sounds auf der ganzen Welt, jeder Sound mag seine Besonderheiten haben, aber ich weiß nicht, ob das Publikum die überhaupt bemerkt.

Ingo (Pow Pow): Ich finde nicht, dass es heutzutage noch zwingend für ein Sound System ist, Dubplates zu haben oder an Clashes teilzunehmen. Gerade weil sich das alles sehr verändert hat. Es hat sehr viel mit Geld-Investitionen zu tun und nicht unbedingt mit Können oder Tradition. Das hat so heftige Ausmaße angenommen, dass es für uns nicht mehr interessant ist. Da gibt es viel wichtigere Sachen, wie z.B. anständig Platten spielen zu können, auf das Publikum einzugehen, einen guten MC zu haben und einfach einen guten Vibe zu verbreiten. Es ist ein bisschen das Problem in Deutschland, dass es gerade viele Trittbrettfahrer gibt, viele, die auf den Zug aufspringen und das machen wollen. Aber keiner bringt es zu Ende, selten macht es einer richtig.
Panza (Supersonic): Bei den jungen Sounds gibt es viele, die sich über Dubplates definieren wollen, aber nicht dazu in der Lage sind, ein Publikum über drei Stunden bei der Stange zu halten.

Till (Soundquake): Ich glaube aber, dass die Leute in Deutschland mit der wachsenden Popularität von Dancehall auch wirklich Lust auf Clashes bekommen. Die gehen hier derbe ab, oft mehr als im Ausland. Und als reiner Juggling Sound, ohne Dubplates, kann man sich in Deutschland nicht an die Spitze spielen.

Die großen deutschen Sounds investieren in Dubplates, um Clashes zu gewinnen, oder in Eigenproduktionen. Wie zahlt sich das aus, rechnet sich das auch ökonomisch?

Till (Soundquake): Es gibt die Entwicklung, dass dieses Dubplate-Ding kaum noch zu finanzieren ist. Selbst wenn man als Clash-Teilnehmer nicht gerade wenig Gage bekommt, steht das in keinem Verhältnis zu dem, was man für Dubplates ausgeben muss.

Elmar (Sentinel): Das rechnet sich immer weniger, ökonomisch macht es überhaupt keinen Sinn. Man kann sich über die Artists beschweren, aber die bewegen sich ja auch nur nach marktwirtschaftlichen Gesichtspunkten – die Nachfrage bestimmt den Preis.
Wenn man heute ein Dubplate zu einem aktuellen Tune von beispielsweise Buju Banton haben will, muss man zwischen 600 und 900 Dollar zahlen. Vor einigen Jahren, als Buju auf Deutschland-Tour war, konnte man ihn noch für 250 Euro bekommen. Losgetreten wurde die Preisspirale mit Tunes wie „Welcome To Jamrock“ oder „Ghetto Story“ – die waren so groß, dass die Artists plötzlich 1000 Dollar gefordert haben.

Knut (Soundquake): Als wir vor einigen Jahren T.O.K. mit „Eagles Cry“ gevoicet haben, war es das teuerste Dubplate, was man sich überhaupt vorstellen konnte – 25.000 Jamaican Dollar. Für uns hat sich das aber insofern ausgezahlt, als dass wir die Einzigen waren, die über mehrere Jahre T.O.K.-Plates im Programm hatten. Das war eine absolute Besonderheit. Heutzutage nehmen Artists Dubplates von einem Tune für 100 verschiedene Sounds auf, dadurch werden die Stücke zu Standards und man bekommt vom Publikum nicht mehr die entsprechende Resonanz.

Ingo (Pow Pow): Wenn jemand vorhat mit Reggaemusik oder als Sound System, sei es als Juggling oder als Clash Sound, reich zu werden, dann kann er das im Grunde genommen abhaken. Ich glaube, dass es deutschlandweit oder auch weltweit recht wenige Sound Systems gibt, die davon leben können. Das rentiert sich nicht, gerade bei den mittlerweile so horrenden Summen, die für Dubplates bezahlt werden. Dieses ganze Clash-Business ist eigentlich nur eine Show. Oftmals sind es auch irgendwelche Schwarzgelder oder Drogengelder, die da über den Tisch gehen. Am Anfang ging es dabei gar nicht wirklich ums Geld, es ging den Sounds darum, ihre Vorbilder, ihre Idole, ihre Lieblings-Artists auf Dubplate für ihren Sound singen zu lassen. Das ist so ein Prestige- Ding. Wenn ich als Jugendlicher von meinem damaligen Idol ein eingesungenes Stück gehabt hätte, das wäre für mich das Größte gewesen. Und sowas ist halt bei Reggaemusik möglich.

Uli (Sentinel): Das Fatale ist, dass wir alle das nur für einen kleinen Kreis von Leuten machen. Manche Tunes haben uns Geld, Zeit und unglaublich viel Nerven gekostet, um an die Artists ranzukommen. Am Ende interessiert das 20 Leute – für die ist das allerdings der Hammer. Und das ist ja bei anderen Genres auch so – Rockabilly oder Northern Soul, da sitzen auch ein paar Leute auf der Welt, die 1000 Pfund für eine Single ausgeben. Das ist eben dieser Wahnsinn, diese gelebte Leidenschaft, die keine Grenzen kennt. Jeder, der hier sitzt, hat wirklich unglaublich viel Geld in dieses Zeug investiert.Sentinel haben 2005 als erstes deutsches Sound System den World Clash in Brooklyn gewonnen. Was hat sich für Sentinel seitdem verändert, und hat die Trophäe auch einen Schub für deutsche Sound System-Kultur insgesamt bewirkt?

Elmar (Sentinel): Das hat auf jeden Fall einen extremen Augenmerk auf unser Sound System gerichtet. CDs von so einem Event gehen ja wirklich um die ganze Welt. Es gibt E-Mails aus der ganzen Welt, und natürlich auch ein unglaubliches Medien-Interesse.
Dann hat sich unser Booking-Preis verändert. In Europa sind wir jetzt sehr viel unterwegs, außereuropäisch ist es immer noch etwas Besonderes. Einen Schub für die deutsche Sound System-Kultur hat es nicht unbedingt gegeben. Es ist nicht so, dass wir alle jetzt viel mehr internationale Bookings bekommen.

Panza (Supersonic): Ich finde, dass danach ein besonderes Augenmerk auf Deutschland gerichtet wurde. Andere Sounds wie wir wurden dadurch auch richtig ernst genommen. Insgesamt denke ich, dass dadurch Sound Systems auf eine höhere Stufe gestellt und jetzt ähnlich wie Reggae-Artists wahrgenommen werden. Viele Leute sind danach vielleicht zum ersten Mal auf einen Dance und Clash gegangen, so wurde ein Interesse für die gesamte Kultur geweckt.

Ingo (Pow Pow): Das hat einen Ruck gebracht für das Wir-Gefühl, wie auch bei der Fußball-Weltmeisterschaft. So wie „Wir sind Pabst“ sind wir auch World Clash. Aber dass es jetzt für die deutsche Szene einen Schub gegeben hat, von wegen hier sind 1000 gute Sounds? International weiß man, dass es hier eine handvoll Sounds gibt, die international mithalten können und deswegen ist es nicht ausgeschlossen, dass jeder dieser Sounds mal den World Clash gewinnt. Dieser Schub war schon lange vorher da. Heute habe ich eher das Gefühl, dass die ganze Szene ein bisschen reduzierter ist. Ich glaube nicht, dass der World Clash nochmal einen totalen Schub gebracht hat oder dass es jetzt nochmal junge Leute gibt, die sagen, wir wollen das in fünf Jahren auch erreichen.

Oliver (Silly Walks): Ich persönlich finde gut, was Sentinel gemacht haben, das war tight. Auch beschämenderweise im Vergleich zu dem, was die anderen beim World Clash geboten haben, das war nämlich eine Zumutung. Sentinel haben einen Kleinwagen oder sogar einen Mittelklassewagen investiert, ich habe da so was zwischen 15.000 und
30.000 Euro gehört. Ja, so macht man das, herzlichen Glückwunsch. Aber das ist genau das, was mich überhaupt nicht interessiert: Rumschreien, auf Schwulen rumhacken in Konkurrenz zu anderen, die rumschreien und auf Schwulen rumhacken. Bitteschön, brauche ich nicht. Sentinel haben einfach ein jamaikanisches Soundsystem besser geklont, als die Jamaikaner das im Moment selbst hinbekommen. Das ist eine Art und Weise, die ich okay finde, mir aber gar nichts gibt. Für Sentinel mag das buchungsmäßig gut sein, das ist für viele bestimmt ein Ansporn, auf diese Karte zu setzen. Aber diese Schule finde ich langweilig. Für mich heißt originell nicht „original“, denn: Wenn man
„original“ ist, macht man es wie alle anderen, das finde ich persönlich scheiße.

Die Show eines Sound Systems ist ja sehr standardisiert. Wodurch entsteht die Individualität eines Sounds, außer dass man Dubplates präsentiert?

Elmar (Sentinel): Man könnte das mit einer gut eingespielten Band vergleichen. Sound System ist eine Erweiterung von einem DJ, der nur auflegt. Einer steht an den Effekten, ein anderer zieht die Platten raus, der nächste legt sie auf, jemand macht MC dazu – und das muss eingestimmt sein. Das Team muss gut aufeinander eingespielt sein, die Stücke dürfen nicht zu lange laufen, sodass die Stimmung abflacht, ein bestimmtes Level bei den aufeinander folgenden Stücken und Speeches muss gehalten werden, und das alles muss vom Ablauf stimmen. Dann hat man einen Super-Dance. Das ist bei all den Sounds hier der Fall, das sind alles exzellente Performer. Für einen Besucher mag es auf den ersten Blick nicht unbedingt erfassbar sein, ob es eine gute Performance ist. Aber wenn
man oft auf Dances geht, merkt man das. Je besser die individuellen Handwerker eines Sounds aufeinander abgestimmt sind, desto besser ist ein Sound.

Ingo (Pow Pow): Dass ein Sound System mehr oder minder gleich auftritt, ist halt vom Konzept her so. Das ist aber auch bei jeder Rockband oder jedem Live-Act so. Aber individuell ist es schon wichtig, wie man sich präsentiert, und dass man sich ein bisschen abhebt. Es gibt halt Sounds, die ihr Programm runter spielen, und es gibt Sounds, wie wir zum Beispiel, die haben auch irgendwelche Show-Einlagen dazwischen. Wir sind da sehr spielerisch, wir lassen uns hier und da Sachen einfallen und achten darauf, dass wir nicht immer das gleiche Programm vom Ablauf her präsentieren. Wobei natürlich auch zählt, wie wir uns auf das Publikum einstellen. Da mag der eine oder andere wirkliche Crack sagen, das Programm ist mir zu standardmäßig, aber da ist es uns mittlerweile wichtiger, wenn das Gros der Leute am Ende eine schöne Party gehabt hat. Wenn wir nur Dub-Plates für die Reggae-Heads oder nur die neuesten Selections spielen würden, würde das vielen auch nicht gefallen. Es ist eine schwierige Gradwanderung, es jedem recht zu machen. Wir versuchen das dadurch, indem wir alle Arten von Reggaemusik spielen, indem wir für Alle spielen. Auch für jemand, der das erste Mal auf ne Reggaeparty geht. Das ist eigentlich immer unser Ding gewesen, so haben wir angefangen.

Oliver (Silly Walks): Ich finde, wesentlich für ein Sound System sollte Geschmack sein. Sounds, die ich gut finde, sind diejenigen, die eine Linie haben und wo man den Geschmack des Selectors erkennen kann. Oder es ist eine bestimmte Posse, die so und so ausgerichtet ist. Dann kann ich mir das anhören, dann ist das interessant. Wenn alle dasselbe spielen – und da gibt es mittlerweile einen richtigen Mainstream auf Parties – dann reicht mir das einmal im Jahr.

Viele Sounds spielen oft dasselbe, ähnliche Selections oder Tunes in der immergleichen Reihenfolge. Außerdem werden viele Bereiche der Reggae-Geschichte,
z.B. Produktionen der 70er und 80er Jahre, kaum berücksichtigt. Warum eigentlich?

Panza (Supersonic): Das gilt in unserem Fall nicht. In unserer Plattenkiste ist ein Drittel Platz reserviert für die Zeit von 1960 bis 1980. Wieviel davon am Abend gespielt wird, hängt immer davon ab, wie das beim Publikum ankommt. Aber gerade in der Zeit ab morgens um drei Uhr lege ich ziemlichen Wert darauf, das zu spielen. Um diese Zeit ist das jüngere Publikum erst mal bedient, die haben genug Dancehall bekommen und ich habe noch was übrig, falls sie mehr haben wollen.

Ingo (Pow Pow): In Deutschland ist es eher so, dass es für die Sachen aus den 70er und 80er Jahren nicht unbedingt ein Publikum gibt. Als wir letzte Woche in Italien gespielt haben, haben wir keinen einzigen Dancehall-Tune aufgelegt und jede Menge 70er/80er- Jahre-Sachen, viele Roots- und Foundation-Tunes. Da ging nur sowas, die Leute sind sowas von abgegangen. In Portugal sieht’s genauso aus. In Deutschland mit seinem Immer-weiter-weiter-weiter, mit seinem Pushen und Suchen nach Neuem ist das vielleicht ein bisschen verloren gegangen.

Oliver (Pow Pow): Überall, wo man hingeht, gibt es eine große Schnittmenge an Sachen, die man kennt. Mich persönlich langweilt das. Dieses „Hits machen, Hits spielen“ gehört dazu, aber genau so wichtig finde ich, dass man Sachen hört, die man eben nicht kennt, und das müssen brandneue Sachen sein, aber auch alte Sachen, die einfach gut sind und wo man sich auf den Geschmack des Sound Systems verlassen muss. Wenn es einem dann gerade nicht so gut gefällt, dann geht man an die Bar, das gehört zu so einem Abend dazu. Für mich ist das ganz wichtig, und wo ich das nicht machen kann, fühle ich mich als Musikanbieter nicht wohl.

Elmar (Sentinel): Reggae ist so arg ein sich ständig neu erfindendes Genre wie kein anderes in der Welt. Und wenn wir Busy Signal, Idonia und Vybz Kartel spielen, dann ist das ebenso Reggae wie Stücke aus den 80er Jahren. Das ist natürlich musikalisch was total Anderes, aber auf heute transponiert. Es hat die gleichen Wurzeln. Und deswegen machen wir auch Reggae. Reggae bedeutet mit der Zeit zu gehen, und es ist essentiell, nicht stehen zu bleiben. Reggae erfindet sich jede Woche neu, jede Woche kommen 50 bis 150 neue Tunes raus. Es gibt wahrscheinlich keinen Musikmarkt, der soviele Neuerscheinungen kennt, auch wenn da viel Mist dabei ist. Deswegen liegt es an uns, das Ganze auszusortieren, Woche für Woche.

Wie beurteilt ihr die Entwicklung, dass bei Clashes und Dances mittlerweile auch CDs und zum Teil noch gar nicht veröffentlichte MP3s aufgelegt werden?

Bongsi (Sentinel): Mit CDs habe ich keine Probleme, das hat etwas mit der technischen Entwicklung zu sein. Die neuen CD-Player sind mittlerweile einfach besser als Plattenspieler, man hat mehr Möglichkeiten, das Handling ist besser und sicherer, die Nadel geht nicht kaputt, wenn man Rewinds macht. In Europa gibt es noch eine starke Affinität zu Vinyl, in den USA und Jamaika gibt es aber kaum noch jemand, der mit Vinyl auflegt.

Knut (Soundquake): Auf Flugreisen hat man pro Person 20 kg Freigepäck. Unsere Dubplate-Kiste wiegt allein 35 kg. Wenn man da mit Vinyl unterwegs ist, zahlt man immens an Übergepäck drauf. Da sind CDs schon einfacher zu transportieren. Für Dubplates sind CDs auf jeden Fall praktischer. Dubplates knistern schnell und sind nach ein paar Einsätzen abgenutzt. CDs kann man sich immer wieder neu brennen. Außerdem hat man pro Dubplate Materialkosten von ca. 50 Euro. Das Geld, das man alleine für das Material ausgibt, kann man besser in die Produktion investieren.

Ingo (Pow Pow): Mit CDs oder MP3s auflegen, das ist für mich nur eine halbe Sache. Ich muss was in der Hand haben zum Auflegen, da steht was drauf auf dem Label. Wenn ich meine Plattensammlung oder Dubplates durchgucke, stecken da Erinnerungen drin. Auf der anderen Seite ist das natürlich der Fortschritt, man muss mitgehen. Wir selber halten solange an Vinyl fest wie es nur geht. Aber ich denke, irgenwann wird das vorbei sein.
Wir sind jetzt viele Jahre weiter und es wird sich noch weiterentwickeln, darauf muss man sich einstellen. Und man kann den Jugendlichen heute, die sich Reggaemusik über MP3 ziehen und das spielen, keinen Vorwurf machen. Wie wir mit Vinyl und später mit CDs aufgewachsen sind, so wachsen die jetzt mit MP3s auf. Für die ist Vinyl irgendwas Altertümliches.

Oliver (Silly Walks): Die Technologie hat sich einfach verändert. Es wird noch eine Weile Vinyl geben, ich hoffe sogar für immer, weil Vinyl die beste Tonträgertechnologie bisher ist. Aber klar, das Andere wird immer mehr werden. Es lohnt sich auch bei vielen Sachen nicht mehr, noch physische Tonträger herzustellen, weil man die schlecht verkaufen kann. Ich weiß nicht, ob Downloads der Weg sind. Ich hoffe das, wir setzen als Produzenten auch ein bisschen auf diese Karte. Finde ich persönlich nicht attraktiv, aber wenn das so ist, dann ist es so.

Till (Soundquake): In Europa hält man am Vinyl fest, das gilt als heilig. In Jamaika kümmert das niemand. Bald werden auch die CDs rausfliegen. Sobald sich das „Final Scratch“-Programm durchgesetzt hat, werden die nur noch mit dem Notebook auflegen. Es gibt dort keine Nostalgie gegenüber dem Tonträger, das ist völlig unerheblich.

Uli (Sentinel): Es ist auf jeden Fall ein negativer Effekt, dass dieses breite Mittelmaß oder die Unterschicht an Sound Systems mehr denn je auftaucht. Man braucht nur einen Computer und DSL-Anschluss und plötzlich hat jeder Zugang zu diesem ganzen Kram. Du kannst dir 2000 Stücke runterladen, und zwei Wochen später kannst du die auflegen – egal wer oder was du bist, ob du Ahnung davon hast oder nicht. Das ist für die Sache nicht unbedingt förderlich, wenn sich plötzlich jeder die komplette Kultur einverleiben kann.

Panza (Supersonic): Ich erinnere mich noch daran, wie schwierig es war um 1996 an ältere Stücke von Sizzla zu kommen. Ich habe meine HipHop-Platten teuer getauscht gegen ein paar Singles von Sizzla. Heutzutage kann jeder innerhalb von zwei Tagen an sowas rankommen. Die ganze Vorarbeit, die wir damals machen mussten, fällt heute weg.

Bongsi (Sentinel): Tja, Jungs, da habt ihr einfach Pech gehabt. Da seid ihr einfach zu früh geboren…

Wieviel Prozent des Publikums verstehen überhaupt, wie ein Sound System funktioniert? Wie hat sich das Publikum über die Jahre verändert?

Knut (Soundquake): Es gibt immer weniger Beschwerden aus dem Publikum a la „Warum muss der Typ am Mikro immer dazwischen labern?“, „Könnt ihr die Lieder nicht mal auspielen?“, „Wieso ist das alles immer so abgehackt?“. Diese Kommentare wird jeder von uns kennen…

Panza (Supersonic): Ja, und das ist eine Anmaßung. Wenn ich auf einem Metallica- Konzert bin, sage ich ja auch nicht zur Band: „Hey, das ist mir jetzt aber zuviel Gitarre hier.“ Entweder man merkt, dass man auf der falschen Veranstaltung ist oder man lässt sich halt drauf ein. Es ist aber für jede Party wichtig, dass es einen kleinen Kreis von Leuten gibt, die das verstehen, auch wenn es nur fünf Leute sind. Die feiern dann und die Anderen machen reflexartig mit. Wenn diese Leute fehlen, ist es ganz schwierig.

Oliver (Silly Walks): Bei uns war es früher so: Wir waren sehr früh auf Tour mit dem Sound System, in weiten Teilen Deutschlands, in Österreich und der Schweiz, und das war ganz oft die erste Begegnung des Publikums mit Reggae. Da war Gentleman unser MC, der war dafür geeignet wie kein anderer, dass den Leuten auch beizubringen. Da gab es eine Handvoll Leute, die sich für Reggae interessiert haben, die aber in den seltensten Fällen die ganze Bandbreite dessen, was wir gespielt haben, kannten. Reggae war damals ja auch gar nicht verfügbar. Um überhaupt die Musik hören zu können, musste man sich schon sehr darum kümmern. Das hat sich alles total gewandelt. Mittlerweile hat jeder schon mal Reggae gehört und sich dafür oder dagegen entschieden. Damit kommen dann häufig auch vorgefasste Erwartungen ins Spiel. Am einfachsten macht man es sich tatsächlich, wenn man das spielt, was alle spielen, dann ist nämlich niemand enttäuscht, außer den Wenigen, die etwas anderes hören wollen. Das ist der Stand im Moment. Damit läuft sich die Sache aber tot und deshalb ist man gezwungen, etwas Anderes anzubieten. Mir persönlich liegt nichts daran, Hits zu brettern und die zu erwartenden Forwards zu bekommen für Zeug, das sowieso jeder gut findet. Man muss natürlich erst mal einen gemeinsamen Nenner mit dem Publikum finden. Das heißt, ich diszipliniere mich zu einem Pleaser-Warm-Up, wo dann alle mitmachen können und versuche dann, von da aus das Publikum irgendwo mit hinzunehmen, wo ich gerade etwas fühle. Manchmal gelingt das.

Ingo (Pow Pow): Ich schätze mal, dass 50 Prozent des Publikums das checken. Das ist ja so oft durch die Medien gegangen. Das Publikum hat sich über die Jahre immer schon verändert, wenn auch nicht ungedingt stetig. Ab und zu gibt es schnelle Entwicklungen, wo alle auf einen neuen Sound stehen und alles checken. Im Moment ist eher ein Rückgang da. Man muss sehen, dass Reggaemusik immer wieder neue Leute finden wird, junge Leute, und Leute auch immer wieder von Reggae weggehen werden, weil sie es irgendwann langweilig finden oder weil es nicht mehr trendy ist. Was war das damals für ein Hype als Sean Paul die Charts gestürmt hat, die Clubs waren voll. Jeder hat Reggae gespielt, alle liefen dahin. Jeder hat dieses Feeling schonmal mitgemacht, Trillerpfeifen, Platten zurückdrehen. Jeder kennt das mittlerweile, das ist nicht mehr so interessant.
Damals waren House/Techno auf dem absteigenden Ast, die Leute haben sich daran tot gehört, und so kam es auch mit Dancehall. Dann ging es wieder mehr in Richtung Roots und Foundation, und jetzt kommt wieder eine ganz neue Wende auf uns zu. Es wird jetzt alles sehr elektronisch und technoid. Das wird dann auch wieder vorbei sein, und dann werden wieder alte Riddims von vor 20 Jahren recyclet. Das verändert sich ständig, und das ist eigentlich auch gut. Wir haben jetzt mit dem Sound zu dealen, auf den die 18- bis 20-Jährigen stehen. Denen kannst du nicht sagen, ihr müsst erstmal Bob Marley und 80er- Jahre-Sound hören, bevor ihr aktuelle Sachen gutfindet. Der Einstieg ist heute einfach anders.

Ihr seid alle mehr oder weniger international ausgerichtet und folgt dem original style – d.h. Patois ist lingua franca für den MC, deutschsprachige Stücke laufen selten. Wie stehen die Chancen für deutschsprachige Sound Systems, wären auch alternative Dance- oder Clash-Modelle vorstellbar?

Bongsi (Sentinel): Wenn überhaupt, werden das Generationen nach uns machen. Die Frage ist, ob man das überhaupt auf Deutsch machen kann. Von den Lyrics her ist das ja mit dem deutschen Werteverständnis nicht vereinbar. Deswegen muss man sagen: Manchmal ist es auch gut so, dass das auf Englisch bzw. Patois stattfindet und kein Mensch das versteht. Wenn ich in England mit dem Auto durch die Straßen fahre und diesen Sound laut aufdrehe, gucken mich die Leute entgeistert an und fragen sich: Wie kann der sowas auf offener Straße laufen lassen? Spinnt der? Und wenn der Stoiber wüsste, welche Sprüche auf dem Chiemsee Reggae-Festival fallen, dann wäre das schon längst verboten.

Oliver (Silly Walks): Es gibt mittlerweile eine richtige Jamaican Dancehall-Posse, die von den meisten Sound Systems auch bedient wird. Mir ist das alles zu eng. Mich nerven diese Rituale in der Dancehall, so bewegt sich doch kein Deutscher. Zum Beispiel den Gunfinger in die Luft zu heben. Das finde ich alles total albern. Ich will nicht diese Leute bedienen. In Jamaika wird die beste Musik auf der ganzen Welt gemacht, aber man kann es nicht Eins zu Eins herbringen, das ist langweilig. Parallel dazu gibt es eine Szene in Deutschland, wo der pure jamaikanische Kram nicht so interessant ist, wo dann eher Seeed oder Culcha Candela laufen. Das hat etwas Weltoffenes, ist aber gleichzeitig von der heimischen Scholle. Das sind nicht die Sachen, die in der Riddim stehen und findet parallel zu Pow Pow, Sentinel usw. statt. Mono & Nikitaman spielen jedes Wochenende live, das sind häufig Parties, die in einer linken Subkultur zuhause sind, wo wir im Grunde auch herkommen. Im Großen und Ganzen finde ich das musikalisch nicht so gut wie jamaikanische Produktionen, aber es wird immer besser.

Ingo (Pow Pow): Ich denke, dass alternative Dance- oder Clash-Modelle auf jeden Fall vorstellbar sind. Es verändert sich alles mit der Zeit, warum nicht auch ein neues Modell einführen oder irgendwelche Sachen ausprobieren? Ich finde sowas eigentlich immer gut. Auch die deutsche Szene oder deutschsprachiger Reggae entwickeln sich. Das ist meines Erachtens noch nicht wirklich interessant, bis auf Seeed, die das anständig machen und auch Erfolg damit haben. Aber dass man als Sound System allein mit deutschen Produktionen und mit deutschsprachigem MC international eine Schnitte hat – auf keinen Fall. Das wird auch nicht kommen. Deutsch-Reggae wird sich nicht so entwicklen, dass das international angesehen wird. Wenn, dann wirklich nur hier in Deutschland.

Till (Soundquake): Ich glaube schon, dass es bald deutschsprachige Sounds geben wird. Das ist wie beim HipHop. Heutzutage wachsen die Kids mit Fler und Bushido auf, die hören sich gar keinen Ami-HipHop mehr an. Die identifizieren sich über deutschen HipHop so stark mit ihrer eigenen Sprache, obwohl die Musik aus einer anderen Kultur kommt. Aber das ist für die gar kein Problem mehr.

Uli Nefzer (Sentinel): Der entscheidende Punkt ist, dass der musikalische Abstand noch riesig ist zwischen deutschem und jamaikanischem Reggae. Die Typen, die Figuren, die Aussagen, die Krassheit, die Übertriebenheit, die Show, die Schärfe, dieses Durchgedrehte gepaart mit der Musik – das ist in Deutschland einfach nicht da. Es gibt nicht diese Typen und Figuren, und wenn es jemand versucht, wirkt das oft peinlich oder er kann nicht singen. Klar, Mono & Nikitaman haben sich über Jahre einen eigenen deutschen Stil erabeitert, das ist cool, aber deswegen würde keiner von uns Mono & Nikitaman auflegen. Es gibt aber ganz unterschiedliche Ansätze. In Mannheim ist das deutschsprachige Ding zum Beispiel ganz groß. Wir haben nach Jamaika geguckt, vielleicht guckt die nächste Generation auf uns und trägt das auf Deutsch vor. Ich würde mir das sehr wünschen, dass jemand auf bei einem Sound System auf Deutsch kommt, der raussticht aus der Masse und einen Entertainment-Faktor hat mit einem eigenen Stil.