Los geht’s erst im Jenseits – 75 Jahre Karlheinz Stockhausen (Originalfassung)

Karlheinz Stockhausen aus Kürten nahe bei Köln gehört zu den bedeutendsten Komponisten des 20. Jahrhunderts und feiert diesen Freitag, 22. August, seinen 75. Geburtstag. Vor allem mit elektronischen bzw. elektro-akustischen Werken wie „Gesang der Jünglinge“ (1956), „Kontakte“ (1960), „Mikrophonie I & II“ (1964/65), „Telemusik“ (1966) und „Hymnen“ (1967), mit der Entwicklung von Live-Elektronik in den frühen 60er Jahren oder seinem Konzept einer auf multiplen Klangquellen beruhenden Raummusik hat er Generationen von Tonschmieden auch jenseits der sogenannten E- Musik inspiriert. Für viele zeitgenössische Elektronik-Produzenten besitzt Stockhausens forcierte Kunst der Klang-Gestaltung immer noch einen hohen Stellenwert; nicht zuletzt lassen sich aus heutiger Sicht Werke wie „Telemusik“ oder „Hymnen“ als analoge Wegbereiter der komplexen Sample-Kompositionen des digitalen Zeitalters interpretieren. So sehr Stockhausens Musik geschätzt wird, so umstritten ist ihre religiöse bzw. mystisch-esoterische Begründung seitens des Komponisten. Zuletzt erregte Stockhausen im September 2001 Aufsehen mit seinen unvollständig wieder gegebenen Äußerungen zu den Terror-Anschlägen in New York. Kürzlich hat der Komponist seinen 1978 begonnenen Opern-Zyklus LICHT mit einer Gesamtdauer von fast 30 Stunden vollendet. Aus Termingründen konnte Stockhausen die Interview-Fragen nur schriftlich antworten.

Karlheinz Stockhausen, ob Sie komponieren, Konzerte geben oder Ihre Kürtener Ferienkurse für Komposition abhalten – im Alter von 75 besitzen Sie immer noch ungebremsten Schaffensdrang. Woher nehmen Sie diese Kraft?

Stockhausen: Von oben.

Ihr 1978 in Angriff genommener Opern-Zyklus LICHT, der aus sieben eigenständigen Opern zu den einzelnen Wochentagen besteht, steht kurz vor der Vollendung. Mit einer Gesamtdauer von fast 30 Stunden ist LICHT schon jetzt die längste zusammenhängende Komposition der Musikgeschichte. Wollen Sie in Zeiten der Kurzlebigkeit ein Zeichen für die Dauer setzen? Warum ist Ihnen die Beschäftigung mit Zeit wichtig?

Stockhausen: LICHT ist jetzt fertig. MITTWOCH aus LICHT und SONNTAG aus LICHT sind szenisch noch nicht aufgeführt. Die Oper Bonn und die Akademie für Musik und Theater Bern haben mich beschummelt… Die Dauer von LICHT ist winzig gegenüber der Ewigkeit. Kunstmusik ist Zeitkunst.

Neben verschiedenen Musikkonzepten wie Weltmusik, Prozessmusik, intuitive Musik oder Raummusik haben Sie die Formelkomposition entwickelt. Werke wie „Licht“ sind nach einer sogenannten Superformel komponiert, die ein Verständnis von Musik als Organismus befördern soll. Wie kann Musik als Organismus funktionieren?

Stockhausen: Gelingt ein Musikwerk als Organismus, kann man es endlos mit Freude studieren.

Die sogenannte „E-Musik“ ist heute oft geprägt durch abgeschotteten Institutionalismus, gleichzeitig fokussiert sich das Konzertleben der klassischen Musik auf routinierte Wiederholungen der immergleichen Klassiker – insgesamt eine durchaus reaktionäre Tendenz. Interesse an neuen Klängen und Innovationen finden seit vielen Jahren eher statt im Bereich der autodidaktischen, non-akademischen Elekronik, der Pop- und Improvisations-Avantgarde. Nehmen Sie das zur Kenntnis, und wie beurteilen Sie diese Entwicklung?

Stockhausen: Auch meine Musik ist E-Musik, „ernste“ Musik. Der Ernst des Komponierens denkt nicht an Unterhaltung. Seit Beginn habe ich für jedes Werk eigene „neue Klänge und Innovationen“ geformt. Es stimmt, dass die Klangwelt der Unterhaltungsmusik reicher geworden ist.

Als einer der wichtigsten Kunstmusik-Komponisten des 20. Jahrhunderts haben Sie auch zahlreiche Musiker und Produzenten aus dem Bereich der populären Musik beeinflusst – von den Beatles über Miles Davis und Björk bis zu zeitgenössischen Techno- und
Elektronik-Produzenten. Letztere zeigen sich oft von Ihren 30 bis 50 Jahre alten elektronischen Werken beeindruckt und wundern sich, wie Sie bestimmte Klänge erzeugt haben. Gleichzeitig stößt Ihr Einsatz von Elektronik in neueren Kompositionen kaum auf Interesse. Das klänge oft nach vorgefertigten Keyboard- und Synthesizer-Sounds, wird bemängelt. War die alte, analoge Technologie besser geeignet für den künstlerische Eingriff, oder hat ihr Interesse am Klangbild gegenüber der Komposition abgenommen?

Stockhausen: Zuschriften, geschickte CDs von Popmusikern, sehr viele Artikel in Pop- Zeitschriften über meine Musik zeigen, dass die „Elektronik in meinen neueren Werken“ mit größtem Interesse gehört wird. Es gibt da keinen einzigen vorgefertigten Keyboard- und Synthesizerklang. Ich forme jeden Klang so lange, bis er einzigartig genug ist und in den Zusammenhang passt. Mir scheint, dass die Nörgelei auf Unkenntnis beruht. Manche Leute möchten einfach mal bellen.

Wie hilfreich sind Computer, Sampler, Tools und Musikprogramme für Ihre Kompositionen? Haben Sie noch Zeit dafür, sich einen Überblick über den Stand der Technik zu verschaffen?

Stockhausen: Alle verfügbaren elektroakustischen Geräte sind hilfreich – wenn man sie hat. Ich sende Ihnen eine Liste von Geräten, die ich in den letzten elektronischen Klangproduktionen verwendet habe. Ein musikalischer Mitarbeiter versucht ständig, sich
„einen Überblick“ zu verschaffen.

Markus Popp von Oval oder Akira Rabelais haben eigene Musiksoftwares entwickelt, weil sie mit den standardisierten Anwendungen herkömmlicher Programme nicht die Klänge produzieren können, die sie gerne möchten. Ist nicht in solchen Fällen schon die Entwicklung solcher Softwares ein künstlerischer Akt? Wäre das auch für Sie ein Herausforderung?

Stockhausen: Elektronische „Instrumentenbauer“ sind immer willkommen. Ich vertraue darauf, auch weiterhin zu finden, was ich brauche. Hören Sie meine Elektronische Musik mit Tonszenen vom FREITAG aus LICHT, die Elektronische Musik OKTOPHONIE und MITTWOCHS-GRUSS usw.

In Ihrer Musik haben Sie immer jegliche stilistische Klischees vermieden. Während sich viele Komponisten im Alter auf ihre Anfänge rückbesinnen, forschen Sie immer weiter. Dabei wird die Musikgeschichte immer älter und bekannter, die Anzahl neuer Klänge nimmt ständig zu. Wie stoßen Sie noch auf Neues? Und: Ist das Finden von Neuem nicht auch an bestimmte außermusikalische Erfahrungen gebunden?

Stockhausen: Ich „stoße nicht auf Neues“, sondern entwickle Neues aus unerprobten Konstellationen – und aus Tag- und Nachtträumen. Alle Erfahrungen können auch künstlerisch anregend sein.

Sie haben kurz nach dem Krieg und während Ihres Studiums in Bars und Nachtclubs als Pianist Jazz, Schlager und Karnevalsmusik gespielt, um Ihren Unterhalt zu verdienen. Stammt aus dieser Erfahrung Ihre Aversion gegen populäre Musik, die stark auf Repetition beruht? Und warum sind Loops und Repetition altmodisch, wie Sie mal in einem Interview gesagt haben?

Stockhausen: Eine „Aversion gegen populäre Musik“ habe ich nicht. Aber seit meiner Arbeit 1952 im Pariser Studio für Musique Concrète finde ich die häufige Verwendung von „boucles“ (loops) uninteressant. Auch die Natur wiederholt nichts, und der Geist sollte sich immer lebendig zeigen.

Anlässlich der New Yorker Uraufführung der Orchesterfassung von „Hymnen“ haben Sie 1971 einen Zusatztext verfasst, in dem es heißt: Was kann ein Komponist Besseres tun, als musikalische Welten zu schaffen, in denen nicht einfach die menschliche Welt von heute gespiegelt wird, wie sie ist, sondern die Projekte, Visionen von besseren Welten sind, in denen sich die Töne, die Fragmente, die „gefundenen Objekte“ vertragen und miteinander die eine, zusammenwachsende Welt und ihre göttliche Bestimmung realisieren? Verfolgen Sie diesen Anspruch auch noch heute?

Stockhausen: Ja. Manche Werke der Kunstmusik sind „schnelle Flugschiffe zum Göttlichen“, wie ich es manchmal genannt habe.

Schon um 1970 sprachen Sie in H.G. Helms’ Stockhausen-Film „Ich werde die Töne“ von ungeheuren Katastrophen, die die Menschen in Zukunft erleiden müssten, da sie falsch leben. Haben die Ereignisse vom 11. September 2001 Sie aus dieser Sicht im Nachhinein bestätigt?

Stockhausen: Die Ereignisse vom September 2001 in Amerika sind eine besonders deutliche Mahnung, dass man in jedem Moment den Tod erwarten kann.

Wie beurteilen Sie den gegenwärtigen kulturpolitischen Kahlschlag in Kommunen und Städten, insbesondere in der Kunst- und Musikmetropole Köln?

Stockhausen: Wir müssen den Glauben entwickeln, dass reiche Menschen Kunst ermöglichen werden. Behörden verlieren ihre Bedeutung.

Sie sind schon zu Lebzeiten ein Mythos geworden. Behindert oder befreit Sie das bei Ihrer Arbeit?

Stockhausen: Stockhausen ist kein Mythos, sondern ein Komponist mit 296 einzeln aufführbaren Werken, und es ist noch nicht aller Tage Abend.

Wird es bald eine komplette Aufführung des LICHT-Zyklus geben, und welche Werke möchten Sie danach realisieren?

Stockhausen: Ihre Frage ist wirklich merkwürdig: vorige Woche war ein einflussreicher Mann der Kulturplanung bei mir und brachte einen großgedruckten farbigen Text „Klänge des Alls“ mit detaillierter Beschreibung von Aufführungen der sieben Teile von LICHT in Nordrhein-Westfalen als „Kulturhauptstadt 2010“. Ideen verändern die Welt!

Welchen kurzen Satz würden Sie jungen Komponisten, Elektronik-Produzenten oder DJs mit auf den Weg geben?

Stockhausen: Im Jenseits geht’s erst richtig los: Furchtlos weiter!

 

Statements zu Stockhausens 75. Geburtstag – eingefangen auf der letzten Popkomm in Köln

Welchen Einfluss hatte Karlheinz Stockhausen auf zeitgenössische Elektronik- Produzenten, Komponisten oder Popmusiker, und was verbinden sie mit ihm?

Jan Werner, Musiker und Produzent bei Mouse On Mars / Microstoria / Lithops:
Ich habe Stockhausens Musik erst kennengelernt, als ich musikalisch schon längst sozialisiert war und ihn dann eher wie ein Sahnehäubchen in meine Plattensammlung eingebaut. Da war noch Platz für ihn. Allerdings finde ich die alten Sachen von ihm schon spannender als diese sehr opulenten Inszenierungen und extrem esoterischen Sachen von heute. Auch wenn man nicht unmittelbar zu der Zeit dabei, als seine Musik wirklich bewegend war oder wirklich etwas verändert hat in der klassischen oder ernsten Musik, so trägt sich das dennoch weiter. Stockhausen hat wahrscheinlich musikalisch Dinge in Bewegung gebracht, die aus ganz anderen Ecken auf einen wirken. Man kann das dann gar nicht mehr unmittelbar auf ihn zurückführen. Es gibt sicherlich Bands, auf die man sich eher beziehen würde, die dann aber wahrscheinlich wiederum von ihm beeinflusst waren. Stockhausen zielt gar nicht so sehr darauf ab, unglaublich originell zu sein, sondern ist jemand, der sehr eng an seiner eigenen Sache dran ist. Das hat eine ganz andere Wirkung als solche Künstler oder Gruppen, die ganz gezielt und programmatisch etwas bewegen wollen – alles ganz anders, alles ganz neu machen. Bei ihm hat man den Eindruck, dass alles ganz zwangsläufig so gemacht werden musste. Das hat eine größere Wirkung, auch über ihn als Person hinaus. Das finde ich gut und spannend.

Wolfgang Voigt/Mike Ink, Techno-Produzent und Geschäftsführer des Techno- Pop-Labels Kompakt:
Ein Einfluss war er für mich auf keinen Fall. Aber das ist eine schöne Gelegenheit, erstmal alles Gute zu sagen zu dem musikalischen Stück Heimat, das ich mit Karlheinz Stockhausen als Kölner verbinde. Ich sehe keinen Zusammenhang zwischen dem, was ich musikalisch repräsentiere und dem, was Karlheinz Stockhausen macht. Das sind zwei verschiedene Welten, die zumindest von meiner Seite in höchstem Maße respektiert und bewundert werden. Aber ich sehen keinen Kontext, weder musikhistorisch noch territorial.

Markus Schmickler/Pluramon, Komponist und Elektronik-Produzent:
Für mich ist Stockhausen ein musikalisches Genie, der wichtigste Musiker Kölns der letzten 30 Jahre möglicherweise. Herzlichen Glückwunsch zum 75. Geburtstag! Ich wünsche mir, dass nach der Vollendung des Opernzyklus bei ihm jetzt die Altersradikalität zuschlägt und schlage ihm ein Duo mit Massami Akita vor.

Adam Butler/Vert, Musiker und Produzent:
Lange Zeit wusste ich zwar, wer Stockhausen war, hatte mir das selber aber nie angehört. Ich hatte das Vorurteil, das sei sehr ernst und trocken. Vor einigen Jahren habe ich mir dann „Kontakte“ gekauft. Ich konnte es gar nicht glauben, ich war regelrecht schockiert von diesen sehr schönen, wenn auch ziemlich schwierigen Tönen. Die Qualität des Sounds ist unglaublich, das hat mich wirklich umgehauen. Kürzlich habe ich eine Aufführung von „Freitag“ aus LICHT besucht, da hat mich die Qualität der Sounds jedoch ziemlich enttäuscht. In den 60er Jahren war Stockhausen seiner Zeit wirklich voraus, er konnte unglaubliche Klänge herstellen. Ich würde sogar sagen, dass jeder Elekronik-Musiker von heute letztlich davon beeinflusst ist, ob er will oder nicht. Es ist allerdings sehr merkwürdig, dass Stockhausen diese Fähigkeit mit Sounds umzugehen anscheinend irgendwie abhanden gekommen ist. Zu einer Zeit, wo jeder andere die Elektronik entdeckt hat und dabei von ihm gelernt hat, scheint er von der Technologie überrollt worden zu sein und nicht mehr zu wissen, was er tun soll. Das klingt manchmal so, als würde er vorgefertigte Synthesizer-Sounds benutzen. So oder so, letztlich war er ein großer Einfluss.

Andreas Dorau, Popmusiker und früherer NDW-Star:
Ich möchte Stockhausen natürlich sehr gerne zum Geburtstag gratulieren. Da ich doch eher mit Popmusik sozialisiert wurde, waren die ersten Stockhausen-Platten, die ich dann Anfang der 80er Jahre gehört habe, für mich schon irgendwie prägend. Aber einen direkten musikalischen Einfluss auf meine Arbeit hatte er nicht.

FR, 22.08.2003