Hauntology – zwischen Nicht-­mehr und Noch-­nicht

von Olaf Karnik

Es ist schon erstaunlich, wie wenig Widerhall das seit 2006 in seinem Blog „K-­‐Punk“ entwickelte Hauntology-­‐Konzept des britischen Kulturtheoretikers Mark Fisher hierzulande im Pop-­‐Diskurs gefunden hat. In größerem Rahmen favorisiert man stattdessen sogenannte „Erinnerungskultur“. Mit Ausnahme von Burial (der von Anfang an unter Dubstep firmierte) ging es der als hauntologisch gelabelten Musik von Leyland Kirby (alias The Caretaker alias The Stranger), von Mordant Music oder des Ghost Box-­‐ Labels nicht viel anders. Es mag an allgemeiner Theoriemüdigkeit liegen oder an der spezifisch britischen Ausrichtung von Hauntology; an der theoretischen Überfrachtung stilistisch unterschiedlicher Musik oder einfach an fehlender sozialer Praxis, die man mit dem Begriff in Verbindung bringt.

Spät, aber nicht zu spät, liefert Mark Fisher nun ausgewählte Schriften über Hauntology, Depression und verlorene Zukunftsentwürfe als Buch-­‐Compilation unter dem Titel
„Ghosts Of My Life“ nach. Hauntology wird hier noch mal vor einen breiteren Horizont aufgespannt, wodurch letztlich die über bestimmte Popmusik hinausgehende kultur-­‐ und sozialkritische Dimension untermauert wird. Dazu zählen tiefschürfende Auseinandersetzungen mit David Peaces TV-­‐Adaption „Red Riding“, dem Kindesmissbrauch-­‐Fall des früheren BBC-­‐Entertainers Jimmy Savile, der in Filmen wie
„Control“ verdrängten, produktiven Depressivität von Joy Division oder Chris Petits Film-­‐Essays „Content“ und „Radio On“. Es ist vor allem die Fehlinterpretation und Diskreditierung der 70er Jahre durch den heute in Großbritannien vorherrschenden Zeitgeist, wogegen Fisher hier luzide und fundiert anschreibt – Hauptproblem bleibt die Gegenwart.

Dass nämlich die Kultur im und durch den Neoliberalismus des 21. Jahrhunderts von Anachronismen und Ermüdung gekennzeichnet sei, ist die zentrale Ausgangsthese des Buchs. Im Gegensatz zur rasanten medialen Evolution (Digitalisierung!) stecken wir kulturell noch im 20. Jahrhundert fest – wo wäre etwa das Äquivalent zu Kraftwerk im
21. Jahrhundert? Wenn jenes ein Kennzeichen hat, dann besteht es in der sukzessiven Abschaffung von Zukunft und einem geschichtsbewusstlosen Jonglieren mit Artefakten und Momenten der Vergangenheit. Für Fredric Jameson, der zu Fishers Theorie-­‐ Architektur maßgeblich beigetragen hat, ist dieser „Nostalgie-­‐Modus“ (im Unterschied zu Nostalgie!) primäres Kennzeichen der Kultur der Postmoderne. Als Beispiel für seine These diente Jameson u.a. der Film „Body Heat“ (1981), der zwar auf der inhaltlichen Ebene nicht von Nostalgie handelt, aber formal, in seiner Nachahmung von Stilmitteln der 40er Jahre, komplett nostalgisch sei. Nach Jameson sind Filme wie dieser ein Symptom für die Unfähigkeit, ein Bild von der Gegenwart zu zeichnen. Und diese Unfähigkeit attestiert Fisher insbesondere der Populär-­‐Kultur seit ca. 2003, die er im Buch als „die schlechteste seit den 50er Jahren“ bezeichnet. Welche Zeit genau spiegeln enorm erfolgreiche Musiker wie Adele, Amy Winehouse, Robbie Williams im Swingmodus, die Arctic Monkeys oder unzählige Bands im 80er-­‐Sound zwischen Postpunk und Synthpop eigentlich wider? Wo Rückblick und Pastiche in der Popkultur zum Normalfall geworden sind, wird Geschichte aber potentiell ausgelöscht, da sie als solche nicht mehr erkennbar ist – alles wird begriffslose Gegenwart. Das Leben geht (immer schneller) weiter, aber Zeit hat aufgehört zu existieren – eine Konstellation, die der Modernist Fisher schon um 1980 in der britischen Science Fiction-­‐TV-­‐Serie
„Sapphire and Steel“ vorweg genommen sieht: Die Zeit ist aus den Fugen. „Hauntology operiert mit diesem Bruch in der Zeit, diesem Aussetzen von Geschichte“, erklärt Fisher dazu im Interview. „Hauntology identifiziert unsere zerbrochene Zeit als pathologisch.“

Für den kulturellen Stillstand macht Fisher der Neoliberalismus verantwortlich. Denn durch seinen Marktstalinismus (ein schöner Begriff aus Fishers letztem Buch „Capitalist Realism – Is There No Alternative?), durch die Privatisierung des öffentlichen Sektors (besonders extrem in Großbritannien!), durch die Zerstörung von Solidarität und Sicherheit, durch den Imperativ nach Produktförmigkeit und Kommunikabilität zerstört er die Bedingungen der Möglichkeit von kulturellem Fortschritt: Rückzug, Experiment und Verwerfen; das Gedeihen in Nischen; Negativität als treibende Kraft kultureller Entwicklung. Auch die materiellen Bedingungen von Kulturproduktion sind betroffen, wo billiger Wohn-­‐ oder Arbeitsraum verschwindet, wo öffentlich-­‐rechtliche Institutionen die gleichen Effizienz-­‐Kriterien wie die Privatwirtschaft anlegen – wo also Kulturproduktion ihrer Ressourcen beraubt wird, um überhaupt „Neues“ zu produzieren. Ergebnis ist eine Orientierung an dem, was sich schon immer als erfolgreich erwiesen hat. Auf diese Weise begünstigt der Neoliberalismus nichts als kulturellen Konservatismus.

Das ist die Situation, die Fisher seit den Nuller Jahren beobachtet und in der
das Gespenst der Hauntology erscheint. Angelehnt an Jacques Derrida, auf den der Begriff zurück geht, hat Fisher (und auch Simon Reynolds) ihn auf eine Musik-­‐Ästhetik bezogen, die in den Dubstep-­‐Nocturnes von Burial, den halluzinatorischen Soundscapes von Leyland Kirby, den psychedelischen Cut-­‐up Songs von Broadcast oder im retrofuturistischen Sound Design des Ghost Box-­‐Labels aufscheint. „Es gab einige Acts, deren Musik sich im weitesten Sinne als gespenstisch bezeichnen ließ“, erklärt Mark Fisher. „Am offensichtlichsten war das erst mal bei Ghost Box, schon der Name hat ja etwas Geisterhaftes. Ghost Box hinterließen einen ziemlich esoterischen Eindruck mit ihrem Fokus auf englische Elektronika aus der Zeit zwischen den 50er und 70er Jahren und dem speziellen Bezug zur Fernsehästhetik dieser Zeit. Zur gleichen Zeit kamen aus einer völlig anderen Richtung Mordant Music mit ihrer Platte ‚Dead Air’, die einige Ähnlichkeiten zu den Ghost Box-­‐Veröffentlichungen aufwies. Die andere große Sache von 2006 war dann die Veröffentlichung des ersten Burial-­‐Albums. Es klang über alle Maßen gespenstisch und enthielt ein zentrales Element, das für hauntologische Musik oft kennzeichnend ist: das Knistern alter Vinylschallplatten wird in den Vordergrund gerückt und zum integralen Bestandteil des Klanguniversums. Und wie bei Ghost Box oder Mordant Music beschäftigte sich auch Burials Musik mit Erinnerung und dem Verlust von Zukunft. Es war natürlich eine andere verlorene Zukunft, die bei Burial erinnert und betrauert wurde, nämlich diejenige, die in den 90er Jahren mit der Dance Music aufgerufen wurde, speziell im Jungle, Garage und 2-­‐Step.“

In seinem Blog schrieb Mark Fisher, dass unsere Gegenwart im Vergleich mit den Zukunftsentwürfen der Vergangenheit scharf verurteilt werden müsse. Da ist es fast unvermeidlich, dass der Sound vieler Hauntologen in ihrer Beschäftigung mit vergangenen Zukunftsentwürfen nostalgischen Charakter annimmt. Genau hier wird aber der Unterschied zum „Nostalgie-­‐Modus“ deutlich, sind doch die vermeintlichen Nostalgismen und Rückbezüge der Hauntologen sehr spezifisch und imaginär. So wird bei Ghost Box-­‐Acts wie The Focus Group, Belbury Poly oder The Advisory Circle ein Zusammenhang von Wissenschaft und Mystik erträumt, der im Britannien der 70er Jahre so nicht existiert hat. Aufgerufen werden auf einer zweiten Zeichen-­‐Ebene auch
Sozialstaat und Wohlfahrt, Reformpädagogik, brutalistische Archtiketur und ländliches Idyll – lauter Elemente, denen der britische Neoliberalismus den Garaus gemacht hat. Es geht dabei eben nicht um die Re-­‐Inszenierung eines etablierten historischen Kanons, sondern um die Neuaufbereitung und Neukontextualisierung von Sounds, Bildern, Artefakten und Praktiken, die vergessen und verdrängt wurden. Oft waren darin Zukunftsentwürfe enthalten, die nie realisiert wurden oder die nicht eingetreten sind. Das Reale von Hauntology bewegt sich also zwischen zwei Abwesenheiten: Einem Nicht-­‐ mehr, das durch sein Fehlen Effekte produziert und einem Noch-­‐nicht, das als Vorstellung wirksam ist. Von den Hauntologen wird es an die Oberfläche gespült und zur Disposition gestellt. Und plötzlich erscheint die Vergangenheit nicht mehr als sicheres ästhetisches Terrain wie beim „Nostalgie-­‐Modus“ – es ist das Unheimliche, das aus der hauntologischen Archäologie der Moderne hervortritt.

Mark Fisher: Ghosts Of My Life. Writings on Depression, Hauntology and Lost Futures (Zero Books), erscheint Ende Mai 2014.

Spex Nr. 352, April 2014