Michael Hardt / Antonio Negri: Multitude. Krieg und Demokratie im Empire. Aus dem Englischen von Thomas Atzert und Andreas Wirthensohn. Campus Verlag, Frankfurt a. M. / New York 2004, 420 S., € 34,90
O-Ton 1:
Michael Hardt: This could be my simple formula for the concept of multitude – that multitude equals autonomy plus collaboration.
Mod. 1:
Mit „Empire“ bescherten Michael Hardt und Antonio Negri ihrem Verlag vor vier Jahren einen Theoriebestseller. Nicht weniger als eine Analyse der sich neu herausbildenden Weltordnung wagten der amerikanische Literaturwissenschaftler und der linksradikale, italienische Philosoph darin. Im Gegensatz zum Imperialismus der Moderne, der sich auf die Souveränität von Nationalstaaten stützte, stelle sich das „Empire“ als weltumspannende „Netzwerkmacht“ dar – eine neue Form der Souveränität, gleichermaßen verkörpert von den dominanten Nationalstaaten wie von kapitalistischen Unternehmen oder supranationalen Institutionen. Gekennzeichnet ist diese globale Herrschaftsordnung durch Spaltungen und Hierarchien, vor allem durch dauerhaften Kriegszustand. Dass eine Gegenmacht mit der Zielsetzung „eine andere Welt ist möglich“ notwendigerweise nur im Inneren des Empire entstehen kann, kündigten Hardt und Negri mit dem Begriff der Multitude in „Empire“ schon an. Für die deutsche Übersetzung wurde da noch der relativ unspezifische Begriff Menge gewählt. Vielzahl oder Vielheit wären holpriger, aber treffender gewesen. Jetzt haben es die Übersetzer Thomas Atzert und Andreas Wirthensohn gleich gelassen, den Begriff noch ins Deutsche zu übertragen. Was also die Multitude genau sein könnte, wie sie entstehen und handlungsfähig werden könnte, das wollen Hardt und Negri nun mit ihrem neuen Buch konkretisieren. Dem schillernden Begriff soll aus möglichst vielen Perspektiven Leben eingehaucht werden – auf dass sich ein Multitude-Bewusstsein zwangsläufig entwickele:
Zitat:
Das Fleisch der Multitude ist reines Potenzial, eine noch ungeformte Lebenskraft und damit ein Element sozialen Seins, das fortwährend auf die Fülle des Lebens abzielt. (…)
Die Gestalten, die in der Multitude zusammenkommen – Industriearbeiter, immaterielle Arbeiter, in der Landwirtschaft Tätige, Arbeitslose, Migranten und so weiter –, sind biopolitische Gestalten, die unterschiedliche Lebensformen an konkreten Orten repräsentieren, und wir müssen die materielle Besonderheit und räumliche Verortung jedes Einzelnen erfassen. (…)
Diese Singularitäten handeln freilich gemeinsam und bilden damit einen neuen Menschentypus, das heißt, eine politisch koordinierte Subjektivität, die von der Multitude geschaffen wird. Die grundlegende Entscheidung, die von der Multitude getroffen wird, ist diejenige, eine neue Menschheit zu schaffen. Wenn man Liebe politisch begreift, dann ist diese Schaffung einer neuen Menschheit der höchste Akt der Liebe.
Mod. 2:
Hardts und Negris Konzeption der Multitude ist zweifelsohne ein utopischen Entwurf. Wo es um die Kreation einer neuen Menschheit geht, sind Pathos und Spekulation unvermeidlich. Auf der Basis einer Synthese marxistischer und post-strukturalistischer Theorie analysieren sie die gegenwärtige historische Konstellation als Bedingung der Möglichkeit für das Enstehen der Multitude. Dabei ist die historische Konstellation gekennzeichnet durch mehrere Faktoren, zum Beispiel: den Anachronismus von Einheiten wie Klasse, Volk oder Nation; die tendenzielle Dominanz immaterieller Arbeit und ein Verständnis von Kommunikation als Produktion; schließlich die Realität biopolitischer Produktion, womit der Überschuss an immateriellen Gütern gemeint ist, der bei Arbeit abfällt. Es sind diese Überschüsse an Informationen, Ideen, Beziehungen und Affekten,
die Gemeinsames schaffen und die Basis für neue Subjektivitäten und neue Formen des Lebens bilden – der diffuse Nährboden der Multitude.
Und genau an dieser Stelle gesellschaftlicher Wertschöpfung greift nach Hardt/Negri der Ausbeutungsmechanismus des postmodernen Kapitalismus. Ausbeutung konzentriert sich nicht mehr auf die verschwindende Fabrikarbeit, die noch klar von Freizeit zu unterscheiden war, sondern greift auf das gesamte Leben über. Wo nämlich Arbeit und Freizeit heute tendenziell verschwimmen, besteht Ausbeutung in der kapitalistischen Aneignung der gesellschaftlichen Verhältnisse und Verbindungen, der Intelligenz, der sprachlichen Codes und Kommunikationen – kurz: all der immaterielle Reichtum, den die sogenannten Singularitäten in der Multitude schaffen. Wie aber sollen diese, in all ihren Besonderheiten, überhaupt ein gemeinsames Bewusstsein und tragfähiges politisches Projekt entwickeln?
O-Ton 2:
Michael Hardt: 11I think, I mean this is the only way that one can really imagine democracy itself is if we don’t work towards creating a homogenious society and creating politics based on sameness, but rather create a politics in which, let’s say the free expression of differences, in other words cultural differences, political differences also, and other social differences can be fully expressed, and nonetheless there can be a possibility of collaboration. 17 Many would argue on the left that we need a return to party politics as a unified front rather than separate political projects based on different identities or social formations. I think that rather then having to chose between these alternatives of the unified party politics or this separate, what you were calling micro- politics based on differences, what we need rather is a politics that allows for a free expression of differences, of different political agendas, but nonetheless manages the kind of cooperation in political projects that can be effective, that can challenge and change the dominant forms of power structure. 12 This could be my simple formula for the concept of multitude – that multitude equals autonomy plus collaboration or maybe singularitiy plus cooperation. So that… and it seems to me that the notion of democracy itself without this notion, it seems to me that democracy means nothing. Democracy is not certainly the coherent expression of one unified people. Democracy has to be this kind of collaboration among differences. The fact that you pointed out, it’s a difficult project, is true. But it seems to me the only worthwhile political project.
Übersetzung 2:
Ich glaube, die einzige Möglichkeit, sich Demokratie wirklich vorzustellen, ist, wenn wir uns nicht in Richtung einer homogenen Gesellschaft und einer Politik der Einheitlichkeit bewegen, sondern eine Politik schaffen, die den Differenzen, also kulturellen Differenzen, politischen Differenzen und sozialen Differenzen, zum freien und vollen Ausdruck verhilft
– und dennoch die Möglichkeit einer Kollaboration offen hält. Viele Linke würden dagegen halten, dass wir eher eine Rückkehr zur vereinten Front der Parteipolitik brauchen als getrennte politische Projekte, die auf Differenz von Identitäten und sozialen Formationen beruhen. Anstatt zwischen diesen beiden Alternativen wählen zu müssen, brauchen wir eine Politik, die den freien Ausdruck von Differenzen und politischen Anliegen erlaubt – und nichtsdestotrotz eine Art von Kooperation zu Stande bringt, die effektiv ist und die dominanten Machtstrukturen in der Welt herausfordern und verändern kann. Dies wäre meine simple Formel für das Konzept der Multitude: Multitude gleich Autonomie plus Kollaboration, oder auch: Singularität plus Kooperation. Ohne eine solche Vorstellung von Demokratie, so scheint es mir jedenfalls, bedeutet Demokratie rein gar nichts.
Demokratie ist mit Sicherheit nicht der kohärente Ausdruck eines vereinten Volkes. Demokratie muss diese Art von Kollaboration von Unterschiedlichkeiten sein. Es ist ist wahr, das ist sicherlich ein schwieriges Projekt. Aber mir scheint es als das einzige politische Projekt, das überhaupt der Mühe wert ist.
Mod. 3:
Der Auseinandersetzung mit Demokratietheorien haben Hardt und Negri entsprechend viel Platz in Multitude gewidmet. Zwei zentrale Begriffe aus der Moderne, nämlich Repräsentation und Souveränität, erweisen sich als untauglich für die Demokratie der
Multitude. Heute, in der Postmoderne, sei die Krise der Repräsentation evident – der Repräsentationsbegriff als solcher passe zur Dimension des Nationalstaats, nicht aber für das von Hardt/Negri anvisierte Projekt einer absoluten und globalen Demokratie. Ebenso taugen Souveränitätskonzepte nichts, da die Souveränität in all ihren Formen von der Macht des Einen ausgeht und damit die Möglichkeit einer vollständigen Demokratie untergräbt – die Macht aller durch Alle. Um dies zu erreichen, müssen Autorität und Souveränität zerstört werden, damit einher geht die Bildung neuer demokratischer institutioneller Strukturen durch die Multitude.
Obwohl Hardt/Negri auf viele politische Ereignisse der letzten Jahre dezidiert eingehen – darunter die Anti-Globalisierungs-Demonstrationen oder der Währungszusammenbruch in Argentinien – bleibt die wohl auffälligste Tendenz des neuen Jahrtausends unkommentiert: die Rückkehr von Religionen und deren Politisierung. Die damit verbundenen reaktionären Disziplinierungen und auf ein Jenseits gerichteten Heilsversprechungen hätten in „Multitude“ unbedingt erörtert werden müssen – da sie Hardt/Negris Vision von Befreiung und Erfüllung im Hier und Jetzt doch am stärksten entgegen stehen.
O-Ton 3:
Michael Hardt: 21 If one is gonna say that all of religious thought and all the politics that can come of it are represented by the what’s today called fundamentalist, either christian or islamic groups, I think that’s a mistake, and it blinds us to some of the powerful moments of the tradition. 22 In particular, just give one small example, one that seems very important to me: There is a strong conception within, especially jewish and christian traditions, and imagine others that I don’t know as well, of a concept of love as a properly political project. And I think, it’s something that’s missing or almost inaccesable in our modern or contemporary conceptions of love and of politics. In other words, whenever I speak about love it’s immediately thought of as sentimental, also trapped within a certain coupleing – eros, family etc. – whereas, of course, within the jewish and christian traditions, love was an immediate, immediately political concept, love was the basis of community. And this seems to me something that is necessary in political projects today.
Übersetzung 3:
Wenn man meint, dass jede Art religiösen Glaubens und die damit verbundene Politik für das steht, was heute als Fundamentalismus von bestimmten christlichen oder islamischen Gruppierungen vertreten wird, dann ist das ein Fehler. Es macht uns blind gegenüber einigen wichtigen und mächtigen Bestandteilen dieser Tradition. Um ein kleines Beispiel zu geben, das mir sehr wichtig erscheint: Besonders in der jüdischen und christlichen Tradition – und wahrscheinlich auch in anderen, die ich nicht gut genug kenne – gibt es ein starke Vorstellung vom Konzept der Liebe als geeignetes politisches Projekt. Und ich glaube, das ist etwas, was heute fehlt und völlig brach liegt für unsere modernen, zeitgenössischen Vorstellungen von Liebe und von Politik. Um es anders auszudrücken: Wann immer man das Wort Liebe in den Mund nimmt, wird das sofort als Sentimentalität verstanden, oder es ist gefangen in einer bestimmten Verknüpfung mit Eros, Familie und so weiter. Im Gegensatz dazu galt Liebe in den jüdischen und christlichen Traditionen aber mal als unmittelbares politisches Konzept – Liebe war die Basis von Gemeinschaft. Und genau das scheint mir heute für politische Projekte notwendig zu sein.
Mod. 4:
Keine Kriege mehr, Schuldenerlass für die Dritte Welt, universelle Bürgerrechte, Grundeinkommen für Alle, Steuer auf Spekulationsgewinne, Mobilität von Migranten, absolute Demokratie – das wären politischen Forderungen, die eine sich bildende Multitude stellen könnte. Hardt/Negri geben keine Anleitung zur politischen Realisierung, sie verstehen „Multitude“ lediglich als philosophischen Werkzeugkasten, die Umsetzung wird an die Praxis delegiert. Aber die Prognose lautet, dass eine Erhebung der Multitude kommen wird – im richtigen Moment.
Wo sich „Multitude“ nicht in Analyse und Kritik ergeht, sondern eine mit normativen Glaubenssätzen aufgepeppte Utopie wagt, fällt ein abschließendes Urteil schwer. Man sollte „Multitude“ jedoch nicht als linkradikale Theorie missverstehen, die auf alte und nicht bewährte Revolutionskonzepte setzt, sondern eher als Heils-Botschaft im Konjunktiv. Am Horizont erscheint die ankommende, absolute Demokratie und die Befreiung des Lebens vom Zugriff kapitalistischer Verwertung. Das bedeutet in letzter Konsequenz zum Beispiel den glücklichen Arbeitslosen, der in der Multitude Demokratie gestaltet und den Reichtum kooperativer Beziehungen genießt – kurz: nicht im Haben, sondern im Sein Erfüllung findet. Hartz IV wird ein erster Prüfstein sein.