Der Bass ist der Boss – Dubstep (Originalfassung)

Immer mehr emanzipiert sich Dubstep vom UK-Garage-Ableger und Grime-Seitenarm zum eigenständigen Sound. Mächtig wummernde Bässe und schleppende Beats aus dem Süden Londons verheißen eine lang ersehnte Rekonfiguration elektronischer Tanzmusik.

„Über die Jahre ist Dubstep kontinuierlich gewachsen, und letztes Jahr kündigte sich der Durchbruch an“, erzählt Loefah, Dubstep-Produzent und DJ, bei einem seiner in der letzten Zeit immer häufigeren Gigs auf dem europäischen Festland. Auch MC Sgt. Pokes und Kollege Skream sind diesmal mit dabei. „Im Januar hat BBC Radio 1 zum ersten Mal ein Dubstep Special gesendet, mit Skream, Hatcha, Youngsta, Kode 9 und mir. Dank der großen Reichweite sind viele Leute endlich auf Dubstep aufmerksam geworden.“ „Und haben wohl realisiert, dass es sich dabei nicht um alten Wein in neuen Schläuchen handelt“, ergänzt Skream, der 2006 neben Burial und Kode 9 eines der ersten Dubstep- Alben veröffentlicht hat. Auch das ist ein Anzeichen für die wachsende Popularität des Genres, werden doch mit dem Albumformat immer auch neue CD-Käuferschichten erschlossen.

Wie bei jedem Dance-Underground war Dubstep zuerst nur über limitierte 12- oder 10- Inch-Vinyl-Importe, White Label-Pressungen oder obskure DJ-Mix-CDs erhältlich. Schwer erhältlich, um es genau zu sagen – denn der Aktionsradius des neuen, vorwiegend instrumentalen Sounds aus schweren Beats und subsonischen Bässen beschränkte sich bis Mitte des Jahrzehnts hauptsächlich auf den Süden Londons, auf Bristol und wenige andere Städte Großbritanniens. Hier fristete Dubstep als kleiner Bruder vom Grime- Sound eines Dizzee Rascal und als entfernter Ableger von UK Garage, Jungle oder 2-Step über einige Jahre ein subkulturelles Nischendasein. Londoner Anlaufstellen waren der mittlerweile geschlossene Big Apple-Plattenladen in Croydon und Clubnächte wie
„Forward>>“ oder die „DMZ night“ – Homebases für die Szene, wo neue Dubstep- Produktionen bis heute ihr Debut in der Öffentlichkeit feiern. Verbreitung fand der mächtige und sehr maskuline Sound, der seinem Namen einem 2002 im amerikanischen XLR8R-Magazin veröffentlichten Artikel über Horsepower Productions verdankt, über Web-Blogs, Londoner Piratensender wie Rinse FM und eine relativ überschaubare Anzahl von Vinyl-Veröffentlichungen auf Labels wie Tempa, Road, Soulja, Big Apple oder Ghost. Manche sind längst wieder eingegangen, neue Labels wie Hyperdub, DMZ oder Tectonic sind hinzugekommen und bestimmen mit Künstlern wie Kode 9, Loefah, Burial oder Digital Mystikz den Dubstep-Sound von heute.

Dass Dubstep im Laufe der letzten fünf Jahre eine gewaltige stilistische Entwicklung durchgemacht hat, dokumentiert die Compilation „The Roots of Dubstep“ auf dem immer noch führenden Tempa-Label. Eine Orientierung an Garage-Tempi und swingenden Breakbeats, die Verwendung von orientalischen Samples, Reggae-Vokalschnipseln und Fusion-Jazz-Elemten zeichnen den frühen Dubstep-Sound bis ca. 2004 aus. Erst in den letzten beiden Jahren hat sich die Geschwindigkeit auf HipHop- und Reggae-Tempi reduziert, gewinnen düstere Soundscapes und minimalistische Arrangements, metallisch harte Beats und mal tief vibrierende, mal mörderisch bohrende Bässe die Oberhand.
Geblieben sind die dem klassischen Dub-Reggae entlehnten Hall- und Echo-Effekte – ein Fetisch des neuen Genres. Doch derartige Definitionen gehen den einschlägigen Dubstep- Produzenten schon zu weit – „tiefen Bass“ lässt Loefah als einziges Merkmal gelten, und Sgt. Pokes ergänzt: „Vor drei Jahren wurde Dubstep eher von Leuten mit einem Garage- Background produziert, heute kommen Leute von Jungle und Techno, Rock und Metal hinzu. So wird die stilistische Bandbreite größer und der Sound entwickelt sich weiter.“ Mag das Selbstverständnis von Dubstep noch so offen sein, eine gewisse Nähe zur Tradition scheint nicht von der Hand zu weisen. So haben bestimmte DJ-Techniken der jamaikanischen DJ-Kultur eine ganze Menge zu verdanken – etwa die Dramaturgie der Unterbrechung, das schnelle Zurückdrehen von Vinylplatten (Rewind) oder das Abspielen von exklusiven Vinyl-Unikaten (Dubplates). Doch Loefah stimmt damit nicht ganz überein: „Ursprünglich mag das zwar auf jamaikanische Sachen zurückgehen, aber für uns ist das anders. Es ist schon ein typisches London-Ding, da gibt es ja auch House-
Nächte mit Rewinds und MCs. In den 70er und 80er Jahren besaß London eine große Dancehall-Kultur, aus der dann später diverse neue Stile hervorgegangen sind, die heute für Dubstep relevant sind. So habe ich beispielsweise Rewinds auf Jungle-Parties kennengelernt.“

Trotz zunehmender Popularität samt anstehenden Remix-Aufträgen für Mainstream- Künstler hat sich Dubstep bis jetzt seinen Underground-Status bewahrt. Den meist erst Anfang 20-jährigen Protagonisten ist es wichtig, dass die Atmosphäre im Club stimmt. Für Loefah und Sgt. Pokes bedeutet dies, dass man auf ein multikulturelles Publikum setzt, dass ein „Community Feeling“ erzeugt wird, und dass vor allem Musik und Sound im Vordergrund stehen – statt der visuellen Aspekte einer Ausgehkultur inklusive Dresscode und Anmache. Hört man sich die herausragenden Dubstep-Alben von Skream, Burial und Kode 9 an, braucht man auch keinerlei Mainstreamisierungs-Tendenzen befürchten. Ob Burials introspektiv-melancholische Soundscapes, ob Skreams euphorisierende Synthese von Kraftwerk-Klang und Reggae-Rhythmik oder eine auf Sci- Fi-Metaphorik und retro-futuristische Archaik beruhende, totale Mystifizierung des Sounds bei Kode 9 – stets schöpfen die Produzenten aus dem ästhetischen Reservoir des Undergrounds im Allgemeinen und der hybriden Dubstep-Geschichte im Speziellen. In vielen Fällen entsteht dabei noch nie gehörte Musik, die vieles zugleich ist: hermetisch und tief, mächtig und mitreißend. Ob denn das Gerücht stimme, dass sich davon hauptsächlich ein männliches Publikum angezogen fühlt? Da kann Skream nur lachen:
„Das ist doch am Anfang immer so, bei jedem Underground-Ding. Am Anfang sind immer nur Journalisten und Trainspotter dabei. Aber inzwischen gibt es bei den Parties ein ausgewogenes Geschlechterverhältnis, ein Publikum im Alter zwischen 17 und 50, Menschen aller Couleur. Es geht ja nicht ums Zurschaustellen, die Leute fühlen sich da wohl.“

Burial – dito (Hyperdub / Cargo)
Kode 9 – Memories of the Future (Hyperdub / Cargo) Skream – Skream! (Tempa / Import)
V.A. – The Roots of Dubstep (Tempa / Import)
V.A. – Tectonic Plates (Tectonic / Baked Goods)
V.A. – Dubstep Allstars Vol. 1 – 4 (Tempa / Import)

NZZ, 11.01.2007