Nach Robbie Williams’ Swing-Album oder Matthew Herbert’ Big Band-Projekt macht sich Nostalgie auch in den unterschiedlichsten Randbereichen der Popmusik breit.
Im Gegensatz zu Retro-Phänomenen wäre Nostalgie in der Popmusik ein vorwiegend individueller Rekurs auf Stile oder Epochen, deren musikalische Kontinuität längst unterbrochen ist – ein einsamer Weg. „I’ve slipped into the past, cause I’m wading through the waters of my time”, singt Richard Hawley mit der leicht verhallten Stimme eines Elvis Presley auf einem Stück seines großartigen Albums “Coles Corner”. Bis vor kurzem war Coles Corner – eine Straßenecke in Sheffield – ein öffentlicher Treffpunkt für Jung und Alt. Hier haben sich schon Hawleys Eltern und Großeltern zum Rendezvous verabredet, hier haben ganze Generationen ihre Ausflüge ins Nachtleben erwartungsvoll gestartet oder ernüchtert beendet – ein schicksalsträchtiger Ort, wo heute eine Bank untergebracht ist. Für den 38-jährigen Singer-Songwriter und zeitweiligen Tour-Gitarristen von Pulp Grund genug, die mit Coles Corner verknüpften, tatsächlichen oder erträumten Geschichten in einem nostalgischen Song-Zyklus Revue passieren zu lassen. Es sind die großen Gefühle kleiner Leute und die Sehnsüchte nach lebensverändernder Erfahrung inmitten der verheißungsvollen Anonymität einer Großstadt, denen Hawley hier ein Denkmal setzt. Wer kennt das nicht:
„Going downtown, where there’s music“, die „cold city lights glowing“, das Gefühl von “born under a bad sign” oder auch “loneliness hangs in the air / no one there real waiting for me / no smile, no flower, nowhere”. Hawleys Szenarien bleiben so allgemeinverständlich wie möglich, sie reflektieren ebenso banale wie basale Urbanitäts-Erfahrungen, bei der eine Metaphysik des Alltags mitschwingt. Insbesondere beim bewegendsten Stück des Albums, der Ballade „The Ocean“: angetrieben von Breitwand- Streichern, die sich an Hawleys einsamem Bariton reiben, hebt der Song nach einem simplen Oktav-Sprung in der Mitte buchstäblich vom Boden ab. Roy Orbinson, Elvis Presley, Johnny Cash, Merseybeat- Balladen, Phil Spector-Sound und die Verlorenheit eines Scott Walker, auch das Instrumentarium, die gesamte Soundästhetik und Song-Formatierung dieser gut 40 Jahre alten Welt sind bei Hawley omnipräsent – und plötzlich enstehen im Widerschein der Nostalgie wieder erstaunlich einfache Wahrheitsmomente der Popmusik, wie man sie eigentlich nicht mehr für möglich gehalten hätte.
Alte Gefühle, uralter Sound
Ähnliches gelang auch dem Londoner Soul-Crooner Bitty McLean dieses Jahr. Mit dem Album „On Bond Street“ und Singles wie „Walk Away From Love“ oder “A Cruisin” erregte er weit über die Reggae-Szene hinaus Aufsehen. Denn auch Bitty McLean schwelgt in purer Nostalgie, wenn er die Melodien alter Soul-Liebeslieder den sublimen Rock Steady- Produktionen von Duke Reid mit der Sessionband The Supersonics aus dem Jamaika der 60er Jahre anpasst. Bitty McLean, der im Londoner Plattenladen Peckings mit den Rock Steady- und Reggae-Klängen seiner damals gerade aus der Karibik immigrierten Elterngeneration aufgewachsen ist, geht es dabei ausdrücklich um eine Huldigung der Vergangenheit. Zwar steht er mit seiner Methode des „Versioning“ in der bis heute aktuellen Tradition jamaikanischer Reggae-Produktion, dennoch markiert McLeans Musik einen Unterschied.
Hier werden nicht alte Riddims auf zeitgenössische Standards getrimmt, sondern alte Gefühle re-animiert. In der Schönheit der Musik und des Gesangs wird eine emotionale Aufrichtigkeit und Reinheit des Herzens heraufbeschworen, die man längst verloren glaubte.
Angesichts soviel Substanz fällt der eher strategische Nostalgismus eines Projekts wie Flanger natürlich ab. Ausgerechnet die Elektronik-Virtuosen Burnt Friedman und Uwe Schmidt alias Atom Heart / Señor Coconut haben sich für ihre CD „Spirituals“ entschlossen, dem ganz frühen Jazz zu fröhnen. Hier geht es um die Huldigung einer Epoche, als allein aus Gründen
der Spielfreude musiziert wurde und Musik mangels entsprechender Technologie noch nicht als „produzierte“ auftrat. Für Flanger gelten die 20er Jahre des 20. Jahrhunderts als musikalisch naive Periode, beseelt vom unschuldigen Geist swingender Bläsersätze und schrammelnder Rhythmusgitarren, dessen verlustig gegangene Sensibiltäten auf „Spirituals“ re-inszeniert werden sollen. Das gelingt aber nur zum Teil. Denn Naivität und Unschuld lassen sich nicht automatisch durch den Einsatz prämoderner Produktionsmittel herbeiführen. Wo hier außerdem eine Distanzierung vom unendlichen Möglichkeitsspektrum der Elektronik suggeriert wird, kommt tatsächlich eine subtile elektronische Post-Produktion zur Anwendung; manch Musikerkollege will auf „Spirituals“ sogar Samples erkannt haben. So erweist sich das Projekt schließlich als virtuose Fingerübung und damit als Gegenteil des eigentlichen Vorhabens. Oder soll der Hörer hier bloß an der Nase herum geführt werden?
Abenteuer im Archiv
Sind die nostalgischen Orte oder Epochen in obigen Fällen klar definiert, setzt sich die Musik von Jean-Phillipe Verdins Projekt Readymade FC oder von Coco Rosie aus diversen Nostalgismen zusammen. Auf seinem Album „Babilonia“ samt Art Deco-Cover und voller Referenzen an die 30er bis 70er Jahre, stellt der französische Komponist, Produzent und
Multi-Instrumentalist Verdin vor allem seine virtuose Kombinatorik heterogener Elemente zur Schau. Klirrende Spieluhren, Beatles-Melodien, Billie Holiday-Gesang, Rock-Riffs,
Wurlitzer-Piano oder Elementarteilchen von House – der Readymade FC spielt auf wie ein varieteeartiger Wanderzirkus, der nach Sample-Logik signifikante Klänge der Epochen abgrast. Das wirkt sehr sportiv, aber dem Nostalgie-Sound fehlt es an utopischem Gehalt. Den besitzen zweifelsohne Coco Rosie. Mit ihrem zweiten Album „Noah’s Ark“ gelingt dem Neo- Folk-Geschwisterduo eine weitere Verfeinerung und Vertiefung ihres Balladenstils.
Klaviermusik und Harfen, Daumenpiano und Spielzeuginstrumente, Lo-Fi-House und Naturgeräusche, Gospelchöre und die Soundästhetik verrauschter Schellack-Platten werden hier organisch zu einem archaisch anmutenden Sound verrührt, der momentan einzigartig in der Popmusik ist. Bei Coco Rosie betritt der Hörer ein verborgenes Antiquariat in der Seitenstraße, das mit glitzerndem Brimborium angefüllt ist. Hier stellt sich ein, was auch der Duden als Nostalgie definiert: eine von unbestimmter Sehnsucht erfüllte Gestimmtheit, die sich in der der Rückwendung zu früheren, in der Erinnerung sich verklärenden Zeiten, Erlebnissen, Erscheinungen äußert. Dennoch basiert diese Nostalgie keineswegs auf Regression. Denn ganz im Gegenteil zu vielen Techno- und Electropop-Produzenten, die sich mit der Wiederaufbereitung von 80er Jahre-Musik ins warme Bett der eigenen Jugend legen, entwerfen sich Coco Rosie zurück in Zeiten, die sie selber gar nicht miterlebt haben. Dies gilt ebenso für den 24-jährigen Folk-Star Devendra Banhart, der auf seinem neuen Album
„Cripple Crow“ das traditionelle Blues-Schema sowie Southern Rock und Wald-Wiesen- Psychedelic aus der Zeit um 1970 revitalisiert. Alte Mythen und die Geheimnisse der Musikgeschichte steuern diese Abenteuer im Archiv, die immer wieder neue exzentrische Subjektivitäten produzieren.
NZZ, 24.11.2005