Polit-Pop und Sound-Politik in der Popgesellschaft (Ausschnitt)

von Olaf Karnik

Now we must learn to judge a society more by its sounds, by its art, and by its festivals, than by its statistics. (Jacques Attali)1

1977 konnte Jacques Attali noch nicht wissen, dass gut 20 Jahre später in einer Gesellschaft wie der deutschen zu ihrer Selbstbeschreibung (oder der ihrer Teilbereiche) Begriffe wie Erlebnisgesellschaft, Raving Society, Spaßgesellschaft oder HipHop-Nation gebräuchlich werden würden. War Punk z.B. noch gegen den „Polizeistaat“ angetreten und Popkultur insgesamt gegen Repression und bürgerliche Hochkultur oder Spießertum und Volksmusik, so hat sie sich heute überall breit gemacht. Popkultur in allen ihrern verschiedenen Ausprägungen – als Musik, Werbung, Fernseh-Serie, Event-Messe, Literaturveranstaltung, Kunst, Mode, politische Inszenierung, Unternehmensphilosophie, Kurzfilmfestival, Feuilleton-Phänomen usw. – ist zur Leit-Kultur anvanciert.
Popgesellschaft also. Dass in ihr, also mithilfe von Pop Konformismus erzeugt wird, der sich zugleich als das Gegenteil zu verkaufen weiß, gehört mittlerweile zur Alltagserfahrung von Konsumenten. Wie sich Pop als unhinterfragbarer Mythos durchgesetzt hat, der jetzt als Letztbegründung schimmert, wird auch deutlich, wenn man sich vor Augen führt „wie attraktiv Pop in ökonomischer Hinsicht für die Neue Mitte und schließlich auch als Legitimationskultur der Neuen Mitte hat werden können, was bis zu so kruden, auf keinerlei Argumentation mehr aufbauenden Äußerungen wie ‚Auch Börse ist Pop’ (Dieter Gorny) hat führen können, also zur Totalaffirmation des Kapitalismus mittels lapidarer Pop-Verweise. Bis zum nächsten Nato-Einsatz unter dem
Slogan ‚Auch Krieg ist Pop’ ist es da nicht mehr weit.“2 Pop als Leit-Kultur konnte sich deutsche Popmusik mit ernsthaften Anliegen nicht länger gefallen lassen.

The Times They Are-A-Changin?
2001 war das Jahr, in dem Politik und Gesellschaftskritik in starkem Maße wieder in die (nicht nur) deutsche Popmusik zurück gekehrt sind. Populäre Refrains lauten „Ich möchte nicht, dass Ihr meine Lieder singt“ und „Alles ist vergiftet“ (Jan Delay) oder „Weck mich auf aus diesem Alptraum“ (Samy Deluxe). Sogar die offene Kampfansage an Nazis
„Adriano (letzte Warnung)“ des afro-deutschen Rapper-Kollektivs Brothers Keepers platzierte sich ganz oben in den Charts (Platz 4 in den Charts von Media-Control). Afrob zeichnete auf seiner CD „Made In Germany“ das krasse Bild einer rassistischen Gesellschaft, veranschaulicht auch an den Gepflogenheiten in deutscher HipHop-Kultur. Voller Wut und Verzweiflung prangerten Blumfeld „Die Diktatur der Angepassten“ an.
Mouse On Mars kennzeichneten ihr Album mit der anspielungsreichen Wortschöpfung
„Idiology“ und stülpten ihm die von autonomen Straßenkämpfern bekannte schwarze Mütze über. Mutter ließen „Europa gegen Amerika“ (so der Titel ihrer Platte) antreten und markierten George W. Bush als „Feind“. Mit der CD „You Don’t Need A Weatherman To Know Which Way The Wind Blows“ setzte der Techno-Musiker Carsten Jost den in Genua mit faschistischer Emphase niedergeknüppelten Globalisierungsgegnern ein Denkmal.
Superpunk konsolidierten sich auf ihrem Album „Wasser marsch“ als popmusikalische und linksreformistische Interessensvertreter der Arbeiterklasse und „einfachen Leute“ – ihre Songs hießen „Neue Zähne für meinen Bruder und mich“ oder „Auf ein Wort, Herr Fabrikant“. Die Goldenen Zitronen resümmierten „Monster regieren dieses Planet“ (und welcher Film könnte das besser illustrieren als Jean-Luc Godards „Weekend“, den sie bei ihren Livekonzerten abspielten?) und nahmen in ihrer beißenden Allroundattacke diesmal auch die Rituale der Rave Nation ins Visier: „Die Suche nach der großen Party, die gerade nicht ist. Auf dem Platz der leeren Versprechungen. All along the watchtower stellt sich heraus, dass sich nichts herausstellt.“ 


 

1 Jacques Attali: Noise. The Political Economy of Music. (Theory and History of Literature, Volume 16). University of Minnesota Press. Minneapolis/London 1985, S.3.
2 Martin Büsser: Wie klingt die neue Mitte? Rechte und reaktionäre Tendenzen in der Popmusik. Ventil Verlag, Mainz 2001, S. 10f.


 

Was sich aber herausstellt, ist, dass die Re-Politisierung von Pop keiner gemeinsamen Bewegung entspringt, sondern ganz verschiedene Auffassungen vom Politischen hervorbringt; dass sie mit mindestens zwei aktuellen, globalen Groß-Ereignissen (Genua; Terroranschläge auf die USA samt Folgekrieg) korrespondiert und darauf gezielt reagiert (Genua: Carsten Jost) oder sich dazu unfreiwillig in einem absurden Spannungsverhältnis befindet (Mutter: „Europa gegen Amerika“); dass sie jenseits von Genua und Ground Zero Kritik und Protest gegen Nazis, Rassismus oder Neoliberalismus und Kapitalismus in Anschlag bringt; dass sie in methodischer Hinsicht grob vereinfacht zwei Modellen der kritisch-politischen Mitteilung folgt: Texte zur Musik und Musik als Text.

Nicht zuletzt spricht Polit-Pop kaum mehr aus einem gesellschaflichen Außen, sondern aus dem Inneren der Popgesellschaft. Deshalb laufen politische Äußerungen im Pop immer Gefahr, lediglich als frischer „Content“ oder neuer Semantisierungsschub für einen schlaff und selbstbezüglichen Ästhetizismus innerhalb der Popkultur gefeiert zu werden. Wo jede Ware nur dadurch zur gängigen wird, indem sie eine Differenz zu ihrer Warenumwelt herstellt, wird auch das „Andere“, das Widersprüchliche, sei es auch politisch, als willkommene Abwechslung aufgenommen. Nicht nur der zum hippen Dresscode in Modemagazinen der letzten Jahre umfunktionierte Kleidungsstil der alten RAF zeugte von dieser Tendenz. Schon 1996 haben Die Goldenen Zitronen in „There’s No Business Like Business“ (CD „Economy Class, 1996) auf die Schwierigkeit hingewiesen, überhaupt radikale Texte zu machen (ohne es gleichwohl selbst zu unterlassen): Man gibt damit ständig Impulse für neue Märkte, und auch ein prima Feindbild ist eine prima Ware. (…)