Der Tarantino-Effekt – Zur anhaltenden Attraktivität von Soundtracks (Originalfassung)

Wenn hier von einer anhaltenden Attraktivität von Soundtracks die Rede ist, dann hat das in erster Linie mit einer Flut an Wiederveröffentlichungen auf dem Tonträgermarkt zu tun, speziell in Form von Vinyl-Schallplatten. Unter den Vinyl-Releases der letzten Jahre befinden sich längst vergriffene Klassiker wie „Rosemary’s Baby“ und „Taxi Driver“, Obskuritäten wie „The Wicker Man“ und „Riddles of the Sphinx“ oder ganze Compilation-Reihen mit Musik aus Italo Western. Neue Labels wie Death Waltz oder Mondo veröffentlichen hochwertige Vinyl-Pressungen von vergriffenen Horror-Soundtracks eines John Carpenter oder Fabio Frizzi, andere widmen sich der Veröffentlichung von im Westen nie erhältlichen Score-Meisterwerken aus der UdSSR und Osteuropa. Aber auch Soundtracks von Cliff Martinez oder Clint Mansell zu aktuellen Filmen erscheinen heute zeitgleich zum Filmstart auf Vinyl. Im Zuge der digitalen Entmaterialisierung von Musik lässt sich der in allen Genres zunehmende Output an Vinyl-(Wieder-)Veröffentlichungen als Gegenbewegung der Liebhaber und Sammler verstehen, die das Musikobjekt nicht nur vor dem Aussterben rettet, sondern zum Kultobjekt adelt. Neben Soul- und Rock-Raritäten oder afrikanischen und latein-amerikanischen Ausgrabungen wäre der Soundtrack-Boom so gesehen aber nur einer unter vielen.

In Bezug auf die Attraktivität von Soundtracks kommt aber noch ein anderer, entscheidender Aspekt hinzu – die Befreiung der Musik vom Film. Streng genommen folgt der Vinyl-Markt ja nur einem Trend, der schon seit Mitte der 90er Jahre auf dem CD-Markt zu beobachten ist: Die nie verwendete Filmmusik von Lalo Schifrin und der 383. Score von Ennio Morricone, Soundtracks von unbekannten, verschollenen, nie gesehenen Thrillern und Horrorfilmen, (Italo-)Western, Blaxpoitation Movies, amerikanischen und italienischen Polizeifilmen, japanischen Yakuza-Movies oder französischen Autorenfilmen erreichen hier in einer Auflage von 500 bis 1000 Stück ein treues Sammlerpublikum – das hier größtenteils Musik akquiriert, die es gar nicht kennt! Und zwar aus den 60er bis 80er Jahren – jener mit Versprechen aufgeladenen Sehnsuchtsepoche der Popkultur, die nicht aufhört, neu entdeckt und wiederverwertet, umgeschrieben und re-interpretiert zu werden. In den Soundtracks jener Zeit und ihrer besten Komponisten findet sich schließlich in kondensierter Form fast das gesamte Spektrum an damals zeitgenössischer Musik – von Pop und Rock über Jazz und Funk bis zur neutönenden Avantgarde. An jene Virtuosität und Spielfreude im Umgang mit Stilen und Klangsprachen reichen zeitgenössische Erfolgs-Komponisten wie Hans Zimmer nicht annähernd heran. Die strenge Formatierung von Filmmusik lässt dies heute auch nur noch selten zu.

Im Prinzip kann man Filmmusik, die eigens für einen Film komponiert und eingespielt wurde, gar nicht von ihrer dramaturgischen Funktion trennen. Der grundsätzliche Sinn von Soundtracks besteht ja darin, beim Anhören noch mal bestimmte Momente des Films in Erinnerung zu rufen und vor dem inneren Auge abzuspielen. Wann immer ich beim Hören des Soundtracks von „Psycho“ auf Bernard Herrmanns spitze Geigen stoße, werde ich die Mordszene unter der Dusche memorieren. Erst in zweiter Instanz werde ich an der Musik etwas anderes erkennen.

Ist der Film aber von vornherein unbekannt oder nichtig, bekommt man es folglich mit einer Rezeptionshaltung zu tun, die funktionale Filmmusik wie Pop-Musik, Klassik oder Jazz hört – eine De- und Re-Kontextualisierung in der Rezeption. Wenn sich dieses Prinzip heute durchgesetzt hat, war daran, neben der Veröffentlichungspolitik auf dem CD-Markt, vor allem Quentin Tarantino maßgeblich beteiligt. Denn alle seiner Filme basieren auf sogenannten Compilation Scores, wie auch „The Graduate“ (Simon & Garfunkel), „Easy Rider“ (diverse Rockbands), „Badlands“ (Carl Orff) oder „2001“ und „The Shining“ (Neue Musik). Es gibt kaum eigens und extra für Tarantinos Filme komponierte und eingespielte Musik. Der Trick besteht nun darin, für seine Filme neben Pop-Ausgrabungen auch Soundtracks obskurer Filme (u.a. von Morricone) zweitzuverwerten. Wie Musik aus anderen Genres sind auch Soundtrack-Veröffentlichungen bei Tarantino zur archäologischen Zone mutiert, wo man nach Schätzen gräbt, um sie anschließend auszustellen. Und dieses Digger-Prinzip hat eine Bewegung des Jagens und Sammelns in Gang gesetzt, in der sich der Soundtrack von seinem Träger- und Referenzmedium Film gänzlich emanzipiert hat.

Rolling Stone, August 2014