Die Parallelwelt des Pop (Originalfassung)

Einst als Vertonungsmusik für Medienproduktionen gedacht, erlangte Library-­‐Musik über die Wiederentdeckung durch Digger, DJs und Produzenten Kultstatus. Immer mehr Tonträger dieser obskuren Sparte werden heute offiziell wiederveröffentlicht.

„Die Attraktion von Library-­‐Musik verdankt sich zu einem großen Teil der Mystik dieser Platten – das seltsame und fantastische Cover Artwork und dazu diese eigenartigen, experimentellen oder groovigen Sounds. Zudem überschneidet sich Library-­‐Musik mit bestehenden Genres. Leute, die sich für Elektronik oder experimentelle Musik, für Jazz oder Funk interessieren, finden auf dem Gebiet der Library-­‐Musik garantiert etwas, das sie mögen. Dazu kommt der hohe musikalische Standard auf diesen Platten – es ist oft Qualitätsmusik. Dass die Komponisten und Musiker echte Profis waren, kann man deutlich hören. Und dann gibt es noch die Nähe zur Filmmusik. Nicht zuletzt ist es ein Feld, das Plattensammler besonders interessiert. Denn hier geht es um Raritäten und dafür besteht immer eine Nachfrage”, findet James Pianta, Chef der australischen Reissue-­‐Labels The Roundtable und Dual Planet. Mit ausgewählten Veröffentlichungen italienischer Library-­‐ Produktionen von Egisto Macchi, Alessandro Alessandroni oder Teisco macht er kommerziell nie erhältliche Meilensteine des Library-­‐Oeuvres auch für ein breiteres Publikum zugänglich. Insbesondere die Musik auf Egisto Macchis „Voix“ und „I Futuribili“ ist eine faszinierende Erweiterung der von Ennio Morricone und seiner Improvisations-­‐Gruppe Nuova Consonanza (dessen Mitglied Macchi war) in den frühen 70er Jahren etablierten musikalischen Sprache. Versatzstücke der freien Improvisation und kompositorische Prinzipien, Italo Western-­‐ Choräle und präpariertes Klavier, elektronische Klangbearbeitung und Pop-­‐Sensibilität fließen hier auf eine nie gehörte Weise ineinander. Ähnlich bestechend klingt auch „Prisma Sonore“ des langjährigen Morricone-­‐Begleiters und Soundtrack-­‐Komponisten Alessandro Alessandroni: psychedelischer Orchester-­‐Pop, dessen zuckerweiche Melodien und alternierende Klangkörper sich über alle Koordinaten des akustischen Raums ausbreiten.

Sample-­‐Archiv und ästhetisches Modell
Derart ambitionierte Produktionen wie die von Macchi oder Alessandroni sind nicht unbedingt typisch für ihr Metier. Library-­‐Musik, auch bekannt als Stock oder Production Music, war ein von Komponisten und Musikern frei gestaltetes, aber nach funktionalen Kriterien der musikalischen Illustration von Filmen, Werbung, Fernseh-­‐ oder Radio-­‐Beiträgen ausgerichtetes Oeuvre, das seine kreative Hochphase von Ende der 60er bis Anfang der 80er Jahre hatte. Library-­‐Musik war nicht kommerziell erhältlich, sondern wurde über Kleinstauflagen in der europäischen und nordamerikanischen Medienbranche vertrieben.
Weltweit gab es hunderte von Library-­‐Labels, zu den bekanntesten zählen De Wolfe, KPM, Telemusic oder Selected Sound. In ihrer Blütezeit hat Library-­‐Musik nahezu jedes musikalische Genre abgedeckt. Unbekannte Musiker und Produzenten aus der zweiten Reihe, aber auch bekannte Komponisten wie Ennio Morricone, Peter Thomas, Piero Umiliani oder Basil Kirchin haben sie eingespielt. Die Produktion entpuppte sich schnell als ungeheure Spielwiese für musikalische Experimente und Groove-­‐Exzesse, für gewagte Sounds und Arrangements oder als Testlauf für Effektgeräte und neue Instrumente wie Moog-­‐ Synthesizer und Rhythmusmaschinen. Kein Wunder, dass Library-­‐Musik schon seit geraumer Zeit von Produzenten auf der Suche nach markanten Beats und Sounds ausgeschlachtet wird. Auf einer Website wie whosampled.com kann man das überprüfen – Künstler wie Madlib, Gnarls Barkley, The Chemical Brothers, Showbiz & A.G., Demdike Stare oder Die Antwoord bedienen sich gerne bei Library-­‐Musik. In wieder aufbereiteter Form sind zahlreiche Hörer und Tänzer also schon in ihren Genuss gekommen, ohne sich dessen wahrscheinlich bewusst zu sein. Zweifelsohne darf sie heute als Teil der DNA digitaler Musikproduktion gelten. Aber auch jenseits ihrer zweckentfremdeten Funktion als Sample-­‐ Archiv für überraschende Sounds übt Library-­‐Musik in den letzten Jahren einen starken Einfluss aus. Die spezifisch thematisch-­‐konzeptuelle Ausrichtung und funktionale Formatierung von Library-­‐Musik samt ihrer seriellen Cover Art fungiert als ästhetisches Modell für aktuelle musikalische Dramaturgien und Konzepte – etwa bei Oneohtrix Point Never, Boards of Canada, James Ferraro, Ducktails und ostentativ bei den Veröffentlichungen des britischen Ghost Box-­‐Labels.

Erweiterung des Pop-­‐Kanons
Compilations mit tanzbaren und gern gesampleten Library-­‐Stücken wie „Music For Dancefloors: The KPM Music Library“ hat es im Verlauf der letzten 10 Jahre häufig gegeben. Dass ganze Alben auf Vinyl wiederveröffentlicht werden, ist ein relativ neues Phänomen.
Einige unter Sammlern besonders geschätzte Produktionen aus dem Italien der 70er und 80er Jahre erblickten jüngst das Licht der Öffentlichkeit, darunter weitere Platten von Alessandro Alessandroni: „I Cantori Moderni di A. Alessandroni“ garantiert mit fröhlich bis melancholischem Scat-­‐Geträller ein leichtverdauliches Hören; „Inchiesta“ taucht Jazzfunk und Disco-­‐Euphorie in unverwechselbares Italo-­‐Flair. „Accadde A…“ von Arawak galt bisher als Geheimtipp der globalen Beat-­‐Schmieder-­‐Szene und entpuppt sich, am Stück gehört, als unbekümmerte World Music-­‐Imagination ohne Anspruch auf Authentizität. Auch die dunkle Seite findet bei den Reissue-­‐Labels Berücksichtigung: „Societa Malata“ von Daniela Casa fügt sich nahtlos in den Kontext aktuell beliebter Horrorsoundtracks der 70er und 80er Jahre. Ähnliches gilt auch für Vuolo-­‐Grandes „Desert“, wobei das Spektrum hier noch um Prog-­‐Rock und Cosmic Disco erweitert wird. Und Zanagorias „Inside Modulation“ mit einer Mischung aus elektronischem Noise und abstrakten Jazz-­‐Rhythmen passt bestens zum gegenwärtigen Trend der Wiederentdeckung elektronischer Avantgarden des 20. Jahrhunderts. Die Liste der Library-­‐Wiederveröffentlichungen wird monatlich länger, und per Download oder bei Streaming-­‐Anbietern im Netz ist ein noch größeres Spektrum dieser Musik verfügbar. Auf diese Weise konturiert sich eine unbekannte Parallelwelt des Pop, die gar nicht richtig erforscht und noch längst nicht Teil des popmusikhistorischen Kanons ist. Erst jetzt tritt die Musik aus dem Schatten ihrer Funktionalitäten und erfährt nach Jahrzehnten eine potentielle Wertschätzung als „Werk“. Denn als Werke, im Sinne normaler kommerzieller Veröffentlichungen, die rezensiert werden und über die sich die Musiker profilieren, waren Library-­‐Platten ja nie gedacht. Die Gegenwart mit ihrem Wiederveröffentlichungswahn ermöglicht nun endlich einen Diskurs über qualitative Errungenschaften der Library-­‐Musik.

LP’s/CD’s:
Alessandro Alessandroni: Prisma Sonore (The Roundtable/Omni)
Alessandro Alessandroni: I Cantori Moderni Di A. Alessandroni (Penny Records/Flippermusic) Alessandro Alessandroni: Inchiesta (Sonor Music)
Arawak: Accadde A… (Golden Pavillon)
Daniela Casa: Societa Malata (Penny Records/Flippermusic) Egisto Macchi: I Futuribili (The Roundtable/Omni)
Egisto Macchi: Voix (The Roundtable/Omni) Vuolo-­‐Grande: Desert (Strut)
V.A.: Music For Dancefloors – The KPM Music Library (Strut) Zanagoria: Inside Modulation (Wah Wah Records)

NZZ, 24.01.2014