Can – The Lost Tapes (Mute) (Originalfassung)

Als jugendlicher Kinobesucher oder zur Prime Time im Fernsehen machte man in den siebziger Jahren immer wieder Bekanntschaft mit der Musik von Can – sei es im reißerischen „Millionenspiel“, im Durbridge-Straßenfeger „Das Messer“ oder in Samuel Fullers Tatortfolge „Tote Taube in der Beethovenstraße“. Tracks – wie man später sagte – waren das, aus ausufernden Jam Sessions zu polyrhythmisch-psychedelischem Pop kondensiert. Aber auch lose Enden solcher Sessions oder Vorstufen später veröffentlichter Versionen fanden sich in den progressiven Fernsehkrimis jener Zeit, die es nie auf Tonträger schafften. Auf der 3CD-Box „The Lost Tapes“ sind sie nun versammelt: die „Dead Pidgeon Suite“ (woraus später „Vitamin C“ werden sollte), „Messer, Scissors, Fork and Light“ (die losen Enden und über-tighten Grooves zu „Spoon“) oder „Millionenspiel“, wo Jaki Liebezeits Beats losflattern wie ein aufgescheuchter Taubenschlag. Ein paar weniger relevante Live-Versionen bekannter Can-Tracks finden sich hier ebenfalls, aber das Gros des von Irmin Schmidt und Jono Podmore ausgesuchten und editierten Materials besteht aus unveröffentlichten Archivfunden aus der Zeit von 1968 bis 1977. So lässt sich auf der Basis von neuen alten Stücken nochmal die bis in die Jetztzeit reichende Wirkmächtigkeit des Can-Sounds nachvollziehen: Impulsgeber für Punk und Postpunk, in den 80ern für „World Music“, in den 90ern für Elektronik und Postrock, in den Nuller Jahren für Free Rock, Neo-Krautrock und avancierte Beats-Bastler. Dabei offenbaren sich auch bisher wenig bekannte Seiten der Band: Free Jazz und Geräuschimprovisation („Evening All Day“, „Blind Mirror Surf“), exzessiver Freeform Rock („Graublau“, „Bubble Rap“, „Godzilla Fragment“), slicke Funk- Breaks („Barnacles“) oder Western Ambient nach Morricone-Rezeptur („Private Nocturnal“, „Alice“). Man lernt dabei Folgendes: Um Disziplin und Entgrenzung dauerspannend im Wechselspiel zu halten, bedarf es der unwahrscheinlichen Verbindung aus gelernten E-Musikern, durchgeknallten Vokalisten, einem Hendrix-Adepten und afrodelischem Rhythmiker. Und diese Band als Maschine ist besser als jeder Algorithmus.

Rolling Stone, August 2012