Neue Musik und Pop

von Olaf Karnik

Die Lok pfeift eine Melodie und beginnt zu schnauben, dann strukturiert gelooptes Schienenklappern den Sound rhythmisch. Nach einem Break folgen in der Durchführung harmonische und rhythmische Variationen der kunstvoll aneinander geschnibbelten„konkreten Klänge“ aus dem Eisenbahnverkehr. Und schon nach knapp drei Minuten – der durchschnittlichen Dauer einer Popsingle – endet Pierre Schaeffers Komposition „Etude aux Chemins de Fer“ mit einer melodischen Erweiterung des anfänglichen Pfeifenthemas. Ein kurzer Trip mit langem Echo in der Popgeschichte.

Schaeffers berühmte Eisenbahnetüde, die tatsächlich noch mit Hilfe von sechs Plattenspielern realisiert wurde und die am 5. Oktober 1948 im Pariser Radio France uraufgeführt wurde, darf als Schlüsselwerk der Neuen Musik, Unterabteilung Elektronik, bezeichnet werden. Zwar hatten vorher schon die italienischen Futuristen oder John Cage mit visionärem Elan Geräusche zu Musik erklärt, aber erst bei Pierre Schaeffer (und seinem engen Mitarbeiter Pierre Henry) klangen sie auch so. Hört man nämlich Schaeffers Track-Zyklus „Cinq Etudes de Bruits“, aus dem die Eisenbahnetüde stammt, mit heutigen Ohren, dann erkennt man darin Geräuschmusik im Popformat – auch wenn dies in Schaeffers Konzeptualismus gar nicht angelegt war. Die Musikalisierung von Krach und Alltagsgeräuschen hat später innerhalb der Popmusik mit „Noise“ gar ein eigenes Genre begründet; vor allem aber sind Loops und repetitiven Rhythmen, wie sie Schaeffer als einer der ersten mit seinem Material formte, aus der modernen Popmusik nicht mehr wegzudenken.

Schon Karlheinz Stockhausen, der in jungen Jahren Erahrungen in Schaeffers Studio beim Pariser Radio Erfahrungen sammelte, mochte sie nicht, die „boucles“ (Loops) der französischen Musique Concrète. In der Abneigung gegen Repetition stand ihm ein Großteil seiner Kollegen (Vertreter der Minimal Music ausgenommen) zur Seite. Kein Wunder, war doch die Neue Musik von Schönberg über Cage und Boulez bis Nono und Lachenmann primär an komplexen Tonsystemen und nonkonformistischen Klangsprachen interessiert. Das war in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts tendenziell anders, als Satie, Strawinsky, Bartok oder Eissler ihre Kompositionen für verschiedene populäre Stile (Volksmusik, Liedgut, Jazz usw.) öffneten. Aber mit Etablierung einer kommerziellen Popmusik als Jugend-, Gegen- und Konsumkultur seit Ende des zweiten Weltkriegs änderte sich folglich auch das Selbstverständnis „seriöser“ Neue Musik-Komponisten, die ihre radikale Kunstmusik nun nicht nur gegenüber den Traditionalisten der Klassischen Musik, sondern auch gegenüber einem wachsenden Popmarkt samt Starkultur und Inszenierungsgebot zu verteidigen hatten. Warum sollte man sich in dieser Situation ausgerechnet von Popmusik inspirieren lassen?

Dass die Formate und Prinzipien, die Strukturen, Sounds und Rhythmen der Popmusik seit Mitte des letzten Jahrhunderts nur geringen Einfluss auf die Neue Musik Europas haben, versteht sich insofern von selbst. Umgekehrt war es anders – nahm sich Popmusik in allen ihren Ausprägungen schon immer von überhall her, was sie gut gebrauchen konnte. So gibt es zahlreiche Fälle und historische Momente, wo Klangsprachen, Ideen oder Konzepte der Neuen Musik auf direkte oder indirekte Weise Einzug in die Popmusik hielten. Dabei war die in Deutschland nie besonders hoch geschätzte Musique Concrète neben der amerikanischen Minimal Music sicherlich am einflussreichsten. Insbesondere Komponisten wie Pierre Henry zeigten wenig Berührungsängste und ließen sich schon Anfang der 60er Jahre auf Popmusik ein. In seiner Musik für den Balltettänzer und Choreografen Maurice Béjart fusionierte Henry Musique Concrète mit zeitgenössischem Beat; ein paar Jahre später nahm er sogar eine gemeinsame LP mit der Rockgruppe Spooky Tooth auf. Und in den 90er Jahren, der Dekade von Techno, zeigte sich der damals schon betagte Henry sogar offen für Techno-Remixe. Für
einen Karlheinz Stockhausen, der sogar den Krautrock seines Schülers Holger Czukay mit dessen Gruppe Can als nicht waghalsig genug herabgewürdigt hatte, wäre dies unvorstellbar gewesen – so sehr der Maestro die Verehrung auch genoss, die ihm seitens der Techno- Generation entgegen gebracht wurde. Eine Verehrung, die immer ein bisschen merkwürdig erschien, gibt es doch kein einziges Stockhausen-Stück, das mit dem ästhetischen Kanon der neuen Elektroniker übereinstimmte. So waren wohl allein Stockhausens künstlerische Radikalität und sein Status als Pionier der elektronischen Musik für die Bewunderung verantwortlich.

Der Einfluss der amerikanischen Minimal Music auf die elektronische Popmusik ist hingegen nicht zu überhören. Schon die melodische Perkussivität im frühen Detroit Techno erinnert oft genug an die sich überlagernden Patterns eines Steve Reich, die ihrerseits der afrikanischen Musik entlehnt waren. Andere Minimalisten wie Terry Riley oder Tony Conrad existierten in friedlicher Koexistenz zum US-amerikanischen Underground. Konsequenterweise wurde Terry Rileys Album „A Rainbow In Curved Air“ Anfang der 70er Jahre wie eine Progressive Rock-Platte vermarktet. Von der Minimal Music (ebenso wie von Jazz und Free Improvisation) führte auch ein Pfad zu Psychedelic, Krautrock und Progressive Rock.
Albenfüllende Stücke erweiterten die Popmusik der späten 60er und 70er Jahre auf ein Maß, wie man es nur aus der Klassik, Neuen Musik oder dem Jazz kannte. Im Mittelpunkt standen dabei Klangforschung und Experiment, die Auflösung konventioneller Formen und Suche nach neuen Stukturen – ein Programm, das (freilich weit radikaler) auch in der Neuen Musik realisiert wurde. Weniger in Deutschland als in Frankreich, aber vor allem in Großbritannien und den USA entstand in dieser Zeit ein Musikertypus, dessen Radius von Jazz und Freier Improvisation über Neue Musik bis zu Rockmusik und Elektronik reichte, und der en passant die Grenzen von E- und U-Musik verwischen half. Bis heute bildet eine Zeitschrift wie The Wire aus London den Nukleus dieser Szene.

Eine neue, von Techno und Electronica sozialisierte Bedroom Producer-Generation sollte dann rund ums Millennium der Neuen Musik abermals Reverenz erweisen. Die Avant-Rocker Sonic Youth gaben mit ihrer Album „Goodbye 20th Century“ – einer Hommage an Komponisten wie John Cage, Steve Reich oder Cornelius Cardew – die Richtung vor. Zuvor hatte sich schon der Kölner Techno-Pionier Wolfgang Voigt alias Mike Ink bei seinem Projekt GAS neben der Spätromantik auch auf die Zweite Wiener Schule berufen. Die größte Aufmerksamkeit erzielte schließlich Matthew Herbert. Mit seinen diversen Projekten (u.a.
Doctor Rockit, Radioboy, Matthew Herbert Big Band) gelang dem Londoner Produzenten eine überzeugende Neudefinition der Musique Concrète im Kontext von House, Elektronik und Big Band Jazz, wobei das Konzept einer Politisierung von Sound im Vordergrund stand.

Als Teil eines in alle Richtungen expandierenden Avantgarde-Begriffs sowie als Prototyp sonischer Radikalität ist Neue Musik für unzählige Elektronika-Produzenten attraktiv geworden. Die Anknüpfungen und Referenzen sind dabei so vielschichtig wie oberflächlich und reichen von Plunderphonics bis zur seriösen Interpretation; in strategischer Hinsicht fungieren sie vor allem als Distanzierung vom Pop-Mainstream. Exemplarisch für diese Entwicklung steht Ekkehard Ehlers, der sich mit seinen Projekten (u.a. Betrieb, Autopoiesis) als Pop-Konzeptionalist am Lautesten hervorgetan hat. In seiner Musik hat sich Ehlers stets auch als Kurator erwiesen, dem es darum geht, „musikalische Archive als Ressourcen und Referenzen als basale Struktur digitaler Musik zu begreifen“. Neue Musik, wie andere Avantgardismen, wird folgerichtig zu Pop umdefiniert. Sie liefert nicht nur Material für den Sampler, auch die Kompositionsmethoden eines Schönberg oder Cardew lassen sich übertragen. Am Ende entsteht ein Sound, der – beispielsweise – Elemente der Neuen Musik, der Folklore und des Jazz gleichermaßen in sich aufgenommen hat. Solch Fusionismus mag
den digitalen Technologien zu verdanken sein, hat aber längst auch die wiedererstarkte Welt des Analogen erobert. So demonstrierte 2009 das 20-köpfige Andromeda Mega Express Orchestra um den 25-jährigen Berliner Komponisten Daniel Glatzel, wie man Neue Musik, Free Jazz, Filmmusik und Pop-Partikel so locker aus den Ärmel schüttelt, als hätten sie niemals getrennten Sphären angehört. Und Alles ganz unseriös im grellbunten Comic-Cover. Frank Zappa hätte es gefallen.

ON – Neue Musik in Köln, 2009