Bisher war das New Yorker Reggae-Label Wackie’s nur Insidern bekannt. Dabei hat Lloyd „Bullwackie“ Barnes mit seinen Produktionen für Horace Andy, Sugar Minott, Wayne Jarrett oder den Love Joys aus der Zeit um 1980 Reggae-Geschichte geschrieben. Teile des umfangreichen Wackie’s-Katalogs werden nun von den Berliner Rhythm & Sound-Produzenten wiederveröffentlicht.
Schon drei Jahrzehnte behauptet sich Reggae international als stilprägendes Genre und ist in seiner zeitgenössischen Variante – Dancehall – so populär wie seit den Zeiten Bob Marleys nicht mehr. Eine gute Gelegenheit, die Wurzeln von Dancehall auch im Roots-Reggae und Lovers Rock aufzuspüren, bieten die Wiederveröffentlichungen auf dem Wackie’s-Label von Ende der 70er/Anfang der 80er Jahre. Obwohl die Aufnahmen des Produzenten Lloyd „Bullwackie“ Barnes eindeutig vom klassischen Studio One-Sound und den Dub-Revolutionen Lee Perrys beeinflusst sind, hat der Exil-Jamaikaner in seinem 1977 in der New Yorker Bronx errichteten Wackie’s House of Music (das erste Reggae-Studio in New York!) über die Jahre eine ganz eigene Handschrift entwickelt. Seine Produktionen für Horace Andy, Sugar Minott, Wayne Jarrett, Junior Delahaye, die Love Joys u.v.a. zeichnen sich durch einen verhallten und sehr räumlichen, harten Roots-Sound aus, in dem das mittlere und hohe Frequenzspektrum betont wird und der reggae- typische Bass eher als Puls zu vernehmen ist. Angetrieben von leicht metallischen, rhythmusmaschinenartigen Beats, zieht eine urbane Kühle durch diese Klanglandschaft, über die die Sänger und Sängerinnen mit einem zarten Zittern in der Stimme hinweg gleiten.
Epigone von Lee Perry und Vorbote des Digitalen
Die weiblichen Stimmen der Love Joys, der Falsett-Gesang eines Junior Delahaye oder die so schneidenden wie zerbrechlichen Stimmen von Horace Andy und Wayne Jarrett scheinen wie gemacht für den Wackie’s Sound. Gerade weil sich diese Vokalisten in Zurückhaltung üben, eignen sich ihre Stimmen umso besser für Post-Production-Verfahren. So wird der Gesang bei Wackie’s-Produktionen oft mit Hall versehen, mit Dub-Effekten gekreuzt und – wie der Rest der Instrumente – unmerklichen klanglichen Verfremdungen unterzogen. Man sagt Lloyd Barnes nach, dass er komplette Stücke durch einen graphic equalizer geschickt haben soll. Auf diese Wiese entsteht eine schillernde, gleichermaßen rootslastige wie künstliche Atmosphäre: viele Wackie’s-Platten klingen wie Vorboten des digitalen Zeitalters.
Anfang der 80er Jahre erreichte Lloyd Barnes seinen künstlerischen Höhepunkt. Barnes bündelte seinen Output, der zuvor auch auf zahlreiche Sub-Labels (u.a. City Line, Bullwackies, Aries, Senrab oder Hardwax) verstreut war, unter dem alleinigen Namen Wackie’s. Eine jamaikanisch- amerikanische Crew von „Engineers“ (u.a. Clive Hunt) und festen Studio-Musikern entwickelte sich zur eingeschworenen Spiel- und Lebens-Gemeinschaft. Wie alle großen Studios wurde auch das Wackie’s House of Music mit der Zeit zur regelmäßigen Anlaufstelle für musikalische Besucher – etwa aus Jamaika oder England (Jackie Mittoo, Roland Alphonso, Max Romeo, Sugar Minott). Der große kommerzielle Durchbruch gelang jedoch nie. Vielleicht auch deshalb, weil Lloyd Barnes’ Produktionen ihrer Zeit um Jahre voraus waren, wie er in einem Interview erklärte:
„Man macht Stücke, und 10 Jahre später will sie jeder haben.“
Dabei hat sich Barnes damals durchaus an der Gegenwart und sogar an der Vergangenheit orientiert. Mit den aus Brixton in London stammenden Love Joys verpflichtete er einige der wenigen weiblichen Vokal-Gruppen im Reggae. Ihren poppigen Lovers Rock mit feministischen Texten unterlegte er oft mit damals hochmodernen, discofizierten Uptempo-Beats, was besonders bei den langen Versionen mit Dub-Anhang ihres zweiten Albums „Lovers Rock Reggae Style“ zu aufregenden, gedehnten Spannungsbögen führt. Mit anderen Künstlern schien Barnes hingegen den Erfolg von Lee Perrys Produktionen von Mitte der 70er Jahre wiederholen zu wollen: der Sweet Soul-Reggae von Junior Delahaye („Reggae Showcase“) besitzt eine auffällige Ähnlichkeit zu Junior Murvin („Police And Thieves“), und The Meditations klingen auf „I Love Jah“ wie eine Neuauflage der Congos („Heart Of The Congos“). Überhaupt Lee Perry: Eine der besten Wackie’s-Stücke – die 12-Inch „The Time Is Now/Revolution“ von Stranger Cole bzw. Leroy
Heptones – nimmt dann auch den alten „Tight Spot“-Riddim der Upsetters als Gerüst für einen um knallige Disco-Effekte angereicherten Reggae-Funk-Hybrid, wie man ihn nur allzu selten hört. 1988 sollte Barnes schießlich auch gemeinsam mit Lee Perry dessen Dub-Album „Satan Kick The Bucket“ für Wackie’s produzieren.
Die Zukunft im Visier hatte Lloyd Barnes eher mit seinen Dub-Alben – z.B. der „African Roots Act“-Reihe. Vergleicht man seine Dub-Exkursionen mit denen des Anfang der 80er Jahre zur Dub-Avantgarde zählenden Scientist, dann klingt der Wackie’s Dub aus heutiger Perspektive weniger veraltet. Scientist bietet die irrsten Effekte auf, um eine breitestmögliche Soundpalette zu kreieren, während Wackie’s eher auf Minimalismus und Monotonie setzt. Sein Dub-Stil suggeriert eine Tiefe, in der sich nichts verbirgt. Das den Echos nachforschende Ohr trifft auf nichts als den Raum und die zu seiner Ausbreitung eingesetzten Sound-Effekte – wie in einem gekachelten Studio. Und der Groove von Schlagzeug und Bass klingt derart gleichmäßig und genau aktzentuiert, als wäre er mit digitalen Mitteln erzeugt. Da wundert es kaum, dass Lloyd Barnes 1985 mit „African Roots Act V“ auch eine der ersten digitalen Dub-Alben überhaupt aufnehmen sollte.
Rhythm & Sound
Die Wackie’s- Klangästhetik hat in den 90er Jahren auch den Dub-Techno des Berliner Basic Channel-/Chain Reaction-Labels inspiriert. Insbesondere das daraus entstandene Reggae-Projekt Rhythm & Sound (mit oder ohne Sänger wie Tikiman) orientiert sich schon seit vielen Jahren am Sounddesign der Wackie’s-Platten – freilich nicht, ohne entscheidende Modifikationen eingeführt zu haben. Auf einer bereits 1997 veröffentlichten (und immer noch erhältlichen), geteilten 12- Inch mit einem Wackie’s-Original auf der A-Seite („Mango Walk“) und einer abstrakten Rhythm & Sound-Adaption auf der B-Seite lassen sich Gemeinsamkeiten und Unterschiede der 20 Jahre alten New Yorker und zeitgenössischen Berliner Produktionsweise gut vergleichen. Für Mark Ernestus und Moritz von Oswald (alias Rhythm & Sound) scheint es nun an der Zeit, die Leistungen von Lloyd Barnes auch im großen Stil zu würdigen – nicht nur durch die sukzessive Wiederveröffentlichung ausgewählter Platten aus dem knapp 80 Alben und mindestens soviele Singles und Maxi-Singles umfassenden Wackie’s-Katalog, sondern auch durch Kollaborationen.
So haben Ernestus und von Oswald Vokalspuren für mehrere ihrer Stücke in Barnes’ New Yorker Studio aufgenommen, darunter auch Barnes Gesang. Unter dem Alias The Chosen Brothers ist er mit seiner Anrufung von Jah auf der aktuellen, wie immer in erhabener Ruhe pulsierenden Rhythm & Sound-10-Inch zu hören. Deren Titel kann nur programmatisch gemeint sein: „Making History“.
Horace Andy/Sugar Minott – Musical Episode/Wicked Ah Go Feel It Maxi Single Horace Andy Meets Naggo Morris / Wayne Jarrett – Mini Showcase CD Stranger Cole/Leroy Heptones – The Time Is Now/Revolution Maxi-Single Junior Delahaye – Reggae / Showcase CD/LP
Love Joys – Reggae Vibes CD/LP
Love Joys – Lovers Rock Reggae Style / Showcace CD/LP The Meditations – I Love Jah CD/LP
Sugar Minott – Wicked Ago Feel It CD/LP (VÖ: 30. August) Wackies Rhythm Force – African Roots Act 2 CD/LP Wackies Rhythm Force – African Roots Act 3 CD/LP
Chosen Brothers, Bullwackie’s All Stars/Rhythm & Sound – Mango Walk/Mango Drive Maxi Single (Wackie’s/Rhythm & Sound/EFA/Rec Rec)
Rhythm & Sound w/ The Chosen Brothers – Making History 10-Inch (Rhythm & Sound/EFA/Rec Rec)
NZZ, 22.08.2002