Rassismus bringt die Geschichte durcheinander… Honest Jon’s Records (Originalfassung)

Durch die islamistischen Terror-Anschläge in London wurden nicht nur unschuldige Menschen getötet. Auch das weltoffene, multikulturelle Selbstverständnis der Metropole wurde dadurch erschüttert, wie Teile der britischen Öffentlichkeit befürchten. Dass das nicht sein kann, demonstriert seit einigen Jahren das Londoner Label Honest Jons Records. Die Plattenfirma residiert im Keller des Honest Jons-Plattenladens an der Portobello Road – mitten im Zentrum des berühmten Notting Hill Carnivals – veröffentlicht Weltmusik, Soul oder Reggae und dokumentiert mit ihren Veröffentlichungen vor allem die multikulturelle Musikgeschichte Londons.

„Die Idee, das Honest Jons-Label zu gründen, hatte Damon Albarn von Blur, einer unserer Stammkunden. Er war der Ansicht, dass ein Laden wie wie Honest Jons auch ein eigenes Label besitzen sollte. Außerdem war er auf der Suche nach einer Adresse für sein Mali Music-Projekt. Alle labelpolitischen Entscheidungen werden von uns gemeinsam getroffen, es ist nicht so, dass uns Albarn finanziell unterstützt“, erzählt Mark Ainley, neben Albarn und Alan Scholesfield einer der drei Betreiber. Seit der Labelgründung und dem Erfolg von Mali Music vor drei Jahren hat Honest Jons mit aufwendig gestalteten LPs und CDs und vertriebstechnischer Unterstützung von der EMI in den unterschiedlichsten Musikmärkten und Spezialistenkreisen auf sich aufmerksam gemacht. Feinste Roots Reggae-Ausgrabungen wie Cedric Im Brooks & The Lights Of Saba, Deep Soul- Wiederveröffentlichungen von Candi Staton oder Willie Hightower, Afrobeat-Compilations wie „Lagos Chop Up“ und „Lagos All Routes“, die imaginierte „Weltmusik“ des genialen Hobo-Musikers Moondog oder auch Neuerscheinungen von Damon Albarn („Democrazy“) und Terry Hall & Mushtaq („The Hour Of Two Lights“) gehören zum Programm. „Ziel des Labels ist es, eine nachvollziehbare Auseinandersetzung mit allen möglichen Stilen anzubieten“, erklärt Ainley.

Trotz aller Stilvielfalt zieht sich ein roter Faden durch die Veröffentlichungen. Das Label dokumentiert die musikhistorischen Spuren verschiedener Immigranten-Kulturen und – Generationen in London. So widmet sich die Kompilation „London Is The Place Is For Me” dem Calypso-Sound der ersten Einwanderer-Generation aus der Karibik Anfang der 50er Jahre. Mit der Hoffnung auf ein besseres Leben siedelten sich Lord Kitchener, Lord Beginner und viele andere Calypso-Stars Mitte des 20. Jahrhunderts in Großbritannien an. Ihre in London eingespielten Platten thematisieren das immigrantische Leben im Spannungsfeld zwischen Integrations-Hoffnungen (“I Was There At The Coronation”, “London Is The Place For Me”) und Rassismus-Erfahrung („If You’re Not White, You’re Black“, „Bulldog Don’t Bite Me“). Der kürzlich veröffentlichte, zweite Teil von „London Is The Place For Me“ stellt die vielfältige Musik des „young black London“ der 50er und frühen 60er Jahre in den Mittelpunkt – die Zeit, bevor sich spezifisch afro-britische Spielarten von Reggae und Dancehall, Jazz und Free Jazz in gegenkulturellen Kontexten ausprägten. So versammelt die Compilation neben einigen Calypsos nie gehörte Londoner Produktionen von Jazz und afrikanischen Stilen wie Kwela und Highlife, samt zahlreichen O-Tönen und Fotos der beteiligten Musiker im Beiheft. Die Mehrzahl der Stücke sind zwar von Humor und naiv-optimistischer Erwartung geprägt, dennoch trübt sich desöfteren der Horizont („Sing The Blues“, „Calypso Blues“). Und wenn Lord Beginner in einem Stück die „General Election“ in Großbritannien als verwirrende Erfahrung beschreibt, dann klingt darin schon der baldige Umschlag der Integrations- Hoffnungen einer gesamten Einwanderer-Generation in Bitterkeit über den alltäglichen Rassismus an. Nicht nur die Musik, auch die ausgezeichneten Linernotes des schwarzen Kulturtheoretikers Paul Gilroy (Autor von „Black Atlantic“) zeichnen diese bislang undokumentierte Geschichte nach. „Rassismus bringt die Geschichte durcheinander“, so Gilroy, denn „seine Opfer werden von ihrer Vergangenheit getrennt und sind dazu verurteilt in einer permanenten Gegenwart zu leben. So wird es unmöglich, sich überhaupt eine Zukunft vorzustellen.“
So kehrte dann Lord Kitchener 1962 auch wieder nach Trinidad zurück, doch viele seiner Kollegen blieben und re-etablierten die lebendige Musikkultur ihrer karibischen Heimat in England. Der berühmte Notting Hill Carnival seit 1964 oder die Evolution von britischem Reggae gehen darauf zurück. Ab Mitte der 80er Jahre hieß der Sound der nächsten Einwanderer-Generation Dancehall und das dazugehörige Lebensgefühl Hedonismus. In Jamaika hatten Prince Jammy und King Tubby mit Stücken wie „Under Me Sleng Teng“ oder „Tempo“ gerade die digitale Revolution eingeleutet. Aufgrund der billigen Produktionsmittel stieß der neue Computer-Sound bei britischen Sound Systems (und baldigen Labels!) wie Unity Sound auf große Begeisterung. Bestens dokumentiert die Kompilation „Watch How The People Dancing” diese Phase der Aneignung und Neu- Interpretation jamaikanischer Standards von afro-karibischen Briten. Auch die Kollaboration des Ex-Specials-Sängers Terry Hall mit Mushtaq von der anglo-indischen Gruppe Fun-Da-Men-Tal führt die Immigranten-Chronik weiter. Indische und arabische Musiker, aber auch von Abschiebung bedrohte rumänische Asylbewerber waren an der Produktion von „The Hour Of Two Lights“ beteiligt. Enstanden ist so ein exzellenter musikalischer Hybrid aus indo-orientalisch instrumentierten Klageliedern und abendländischen Popmelodien mit politischem Gewicht: „Stand Together“ lautet die Botschaft. Passend zum 40-jährigen Jubiläum des Notting Hill Carnevals in London veröffentlichte Honest Jons letztes Jahr auch die Soca-Compilation „Lif Up Yuh Leg An Trample“ mit aktuellen Hochgeschwindigkeits-Rhythmen aus Port of Spain.

Auch die Dokumentation migrantischer Musik in anderen Metropolen gehört zum Programm des Labels – etwa kubanischer Son in New York oder die leicht windschiefen Reggae-Produktionen von Oswald Creary aus Toronto („Half Moon Productions“) für Augustus Pablo, Johnny Osbourne oder Stranger Cole. Ähnlich wie Wackie’s in New York wurde auch das kanadische Half Moon-Label in den späten 70er Jahren zur Anlaufstelle für Exilanten aus dem krisengeschüttelten Jamaika. Hier schließt sich der Kreis zur heutigen Funktion von Honest Jons – Label und Laden als imaginierte Oase der sozialen Integration unterschiedlicher Ethnien und Kulturen. Auch wenn sich die Gegend rund um die Portobello Road heute zur gelackten Einkausmeile gewandelt hat, wird hier seit Jahrzehnten Musik gemacht und verkauft, die ihre Qualität multikulturellen Bedingungen verdankt. „Gegründet wurde der Laden von Jon Clare, der vor 10 Jahren ausgestiegen ist, um Psychoanalytiker zu werden. Seiner Meinung nach erfüllt der Laden eine therapeutische Funktion“, erzählt Mark Ainley. „Für mich geht es bei Honest Jons immer noch um sowas Altmodisches wie Gegenkultur.“

FR, 14.11.2005