Der Content von gestern – Daft Punk und die glücklichen Kinder des French Pop (Originalfassung)

Die Auflösung der Antipoden Underground vs. Mainstream im Siegeszug elektronischer Tanzmusik brachte Madonna 2000 in einem Refrain auf den Punkt: “Music – makes the people come together; music – makes the bourgeoisie and the rebel”. „Music“, einer der einprägsamsten Hits und integrativsten Dancefloorstücke des letzten Jahres wurde, wie auch Teile des gleichnamigen Madonna-Albums, von Mirwais Ahmadzai aus Paris produziert. Mit dem Engagement von Mirwais trug Madonna einer Tatsache Rechnung, die kaum zu überhören war: Wo immer Menschen unterschiedlichster Herkunft in den letzten Jahren auf Tanzflächen oder in Plattenläden zusammen kamen, spielten House und Pop französischer Provenienz eine entscheidende Rolle. Die markantesten Poprefrains, die wirkungsvollsten Dancefloor-Effekte, die verführerischsten Sentimentalitäten der letzten Jahre stammen von Platten aus Frankreich.

Und 2000 war definitiv das Jahr von French Pop. Mit „Am I Wrong“ von Etienne de Crécy, „Lady (Hear Me Tonight)“ von Modjo und schließlich „One More Time“ von Daft Punk wurden jeweils Prototypen des club- wie radiotauglichen Songtracks geschaffen, in denen die Kunst des Refrains (aus der Geschichte des Popsongs) mit der Funktionalität elektronischer Tanzmusik (aus der Geschichte von Disco) in Eins fallen. Das ist insofern berauschend, weil die Kombination von Songfragment und Dancegerüst hörbar aus dem Herzen einer Underground-Kultur stammt, die mit dem Popsong aufgewachsen war und sich dann via Dance Music von ebendiesem in den 90ern verabschiedet hatte. Man tanzte dann zu instrumentalen Tracks, deren Hersteller sich von der Idee des Songs, Autors oder Stars verabschiedet hatten – während zeitgenössischer Pop klebrige Chartsmusik für Teenager, Indie-Pop etwas für Melancholiker und Pop im Allgemeinen eine Erinnerung an früher war.

Song und Track
Seitdem Musiker, die im Dance-Underground der 90er Jahre mit Hilfe elektronischer Produktionsmittel ihre ersten musikalischen Schritte machten, Pop wieder für sich reklamieren, kehren auch Gesang, Song und Starinszenierung zurück – allerdings in Form einer Referenz an die Zeit von Mitte der 70er bis Mitte der 80er Jahre. Am deutlichsten und effektivsten wird dieser Content von gestern in Frankreich reaktiviert. Ob bei den Produktionen von Mirwais, auf Etienne de Crécys Album « Tempovision » oder bei Benjamin Diamond, dem Shooting Star von 2000 – man feilt an der Synthese von Song und Track. Der allmächtige Wumms des Dancefloors und stimulierende Soundeffekte aller Art sind nicht mehr Subjekt der Musik, sondern tragen und dekorieren nun Strophe/Refrain-Schemata, wie das zu den Zeiten von analogem Pop auch schon der Fall war. Damit einher geht auch die Re-Forcierung des Prinzips „Hit-Single“ und eine klassische, auf Durchhörbarkeit zielende Album-Dramaturgie. 1998 von Air auf „Moon Safari“ vorgeführt, ist das Prinzip der Abwechslung von Dance-Tracks, Balladen, Spielereien und vermeintlichen Hits auf französischen Longplayern mittlerweile Gang und Gebe. Abgewechselt werden aber nicht nur Intensitäten und Stimmungen, sondern ganze Stile und Genres. So klingt das letztjährige Debut „United“ der auch mit Daft Punk befreundeten Poprock-Gruppe Phoenix mal wie Fleetwood Mac auf „Rumours“, mal nach Punkrock und New Wave, dann wie Elektropop
– und könnte im Plattenregal mühelos zwischen Peter Frampton „Comes Alive“ und Boston („More Than A Feeling“) stehen. Ähnlich verhält es sich auch mit Daft Punks neuem Album
„Discovery“. Im Sinne von very Disco wird zwar am beatdominierten, filterhousigen Sounddesign festgehalten, ansonsten fließt in komprimierter Form alles ein, was in Thomas Bangalters und Guy-Manuel de Homem-Christos Jugend mal für Aufregung gesorgt hat: Synthiepop aus der Achtziger-Disco, Herbie Hancocks „Rock It“, Van Halen-Gitarren, „I’m Not In Love“ von 10cc, New Order, Teenager-Chants, die Buggles („Video Killed The Radio Star“) und Arrangements, wie man sie nur von Supertramp kennt. Auch Daft Punks Entdeckung von Johann Sebastian Bach als Harmoniegeber wirkt wie eine Referenz an Walter Carlos’ Moog-Synthesizer-Interpretationen bei „Switched On Bach“. Homework 75-85 Ohne Zweifel sind Daft Punk, neben Air, die Impulsgeber des French Pop. Als Modell dient immer noch das Bild auf dem Innencover ihres Debutalbums „Homework“. Gezeigt wird dort ein Jugendzimmer-Schreibtisch samt Kiss-Poster, Chic- und Beach Boys-Single, Andy Gibb-Tasse, Mix-Tapes, Comic, Playboyheft von 1979 plus modernem Steckerkabel von heute – ein Zeitbild im Deleuzschen Sinne: die „Montage“ von popkulturellen Relikten aus der Zeit zwischen 1975 und 1985, auf die alle Kinder des French Pop rekurrieren, mit dem Symbol zeitgenössischer, elektronischer Produktion – dem Verbindungsstecker – findet innerhalb ein und desselben Bildes statt. Ein komponiertes Bild, das die Zusammensetzung der Musik genau erklärt. Fast scheint es, als hätten die Überväter von Daft Punk hier ein strategisches, ästhetisches Programm vorgegeben, an dem sich alle abarbeiten, indem Stück für Stück einzelne Referenzen bearbeitet und rekombiniert werden. Nicht zufällig wirken Phoenix (so lautet auch ein Titel auf der ersten Daft Punk-LP), Benjamin Diamond oder Modjo so, als wären sie als Nebenprojekte von Daft Punk erfunden worden. Das ist gar nicht so abwegig, denn Stardusts „Music Sounds Better With You“ (1998), dem Benjamin Diamond die Stimme lieh, war auch schon ein Projekt der Daft Punk- Hälfte Thomas Bangalter.
Die Zeit von 1975 bis 1985, die den French Poppern als gemeinsamer musikalischer Bezugsrahmen dient, war eine glorreiche Epoche. Nacheinander und nebeneinander erlebten junge Menschen, die in diesen Jahren ihre Schulzeit verbrachten, Musikrichtungen wie Hard- und Softrock, Mainstream-Pop, Disco, Funk, Punk, New Wave, Rap, Elektro, Modern Soul, Synthie- Pop – von unzähligen Subgenres und vitalen Revivals vorgängiger Stile und Epochen ganz zu schweigen. Nicht zuletzt fiel auch der Aufstieg und Fall von Kraftwerk – der ersten Supergruppe der elektronischen Musik – in diesen Zeitraum. Wer aber damals schon im Abiturientenalter war, wurde unweigerlich in diverse, auch parallel laufende oder sich überschneidende, popmusikalisch-gesellschaftspolitische Kriege verwickelt, z.B. Punk gegen Disco, Electro vs. Hardrock, Softrock vs. Synthiepop. Dabei ging es keineswegs nur um Geschmacksfragen, sondern um Subjektivierungen mittels Musik, ökonomische Modelle, Geschlechteridentitäten, Lebensentwürfe, Politik. Aber die Kinder des French Pop waren noch zu jung, um in den Kämpfen dieser Zeit Position zu beziehen. Deshalb ist ihr Rekurs ein rein ästhetisch-nostalgischer: Unterschiedslos bedienen sie sich bei Klängen und Zeichen einer gesamten Epoche – bei ALLEN Musiken, die damals aus dem Radio strömten, und nicht bei einer bestimmten Stilrichtung, dessen dissidentes Potential vielleicht heute zu revitalisieren wäre.

Virgin Killer
Mit der biographisch verständlichen Verklärung einer Dekade als „goldene Zeit“ – die übrigens einzig von Air mit ihrem Soundtrack zum Film „The Virgin Suicides“ in düsteren Farben gezeichnet wird – gehen auch Strategien der Maskierung und Infantilisierung einher. Ließen sich Daft Punk bisher mit Hundeköpfen oder Masken abbilden, die noch das Bild des sozialen Außenseiters aufriefen, so verkleiden sie sich auf „Discovery“ mit Roboterhelmen. In Presseinterviews erklären sie, dass sie nun als Roboter die Welt neu entdecken. Abgesehen davon, dass die Figur des Roboters schon immer eine weiße, männliche Machtphantasie darstellte, wird der Bezug zum Werk nicht klar – klingt doch ihre aktuelle Platte persönlicher und nostalgischer denn je. Roboterhaft wirkt da eher der Autotune-Effekt, der auf „One More Time“ und anderen Stücken zur Anwendung gelangt: als Maskierung der Stimme. Auch Benjamin Diamond inszeniert sich auf dem Cover seiner Platte „Strange Attitude“ als künstlicher Cyborg.
Dahinter, im Innencover, verbirgt sich allerdings das menschliche Antlitz eines kleinen Jungen. Die Sehnsucht nach Unschuld und Naivität, auf die eigene Kindheit rückprojiziert, spielt auch für Daft Punk eine entscheidende Rolle. In Interviews äußern sie den Wunsch, nichts begründen zu müssen, stattdessen Musik, wie zu Kinderzeiten, einfach nur gut oder schlecht finden zu dürfen. Und in ihrem vom japanischen Manga-Künstler Leiji Matsumoto (der in den 80er Jahren für die bei französischen Kindern besonders beliebte TV-Serie „Captain Harlock verantwortlich zeichnete) realisierten Musikvideo zu „One More Time“ sieht man Erwachsene und Tiere mit kindlich-unschuldiger Mimik musizieren. Alle sind glücklich, alle Widersprüche scheinen in diesem fiktiven Idyll aufgelöst. Der Clip endet mit dem Angriff eines Raumschiffs und der Invasion
bewaffeneter Truppen. Um das Bild auf die Musik und den Status von Daft Punk zu übertragen: Verlogen daran ist die Suggestion, dass man mit dem glücklichen Musizieren und friedlichen Feiern jedweder Party in der Defensive sei, immer von einem kriegerischen Außen bedroht.
Tatsächlich diktieren Daft Punk und Musik wie ihre die musikalischen Spielregeln. Längst besitzen sie popkulturelle Hegemonie. Und nicht nur das: Darauf stützen sich ganze Freizeitindustrien und damit auch gesellschaftliche Formationen. Trotz Punk im Namen haben die beiden Musiker eine zentrale anti-illusionistische Erkenntnis der Bewegung wohl vergessen. Hieß es bei Punk doch zurecht: No one is innocent!

NZZ, 15.03.2001