Der Sound zum Mord – Ennio Morricone und der Giallo (Originalfassung)

Schon seit geraumer Zeit erfreuen sich italienische Giallo-Filme der 70er Jahre einer großen Beliebtheit. Dank zahlreicher DVD-Wiederveröffentlichungen erlebt die Popularität der brutalen und nervenaufreibenden Thriller, Horror- oder Polizeifilme eine Renaissance. Flankiert wird das dubiose Sehvergnügen durch die Veröffentlichung vieler längst verschollen geglaubter Soundtracks. Zu den interessantesten seiner Karriere gehören die Giallo-Soundtracks, die Ennio Morricone zwischen 1969 und 1975 komponiert hat. Hier gehen Improv und Edelkitsch, Neue Musik und Jazz, Psychedelia und Klassik eine bravouröse Symbiose ein.

Der Giallo ist eigentlich ein schundliterarisches Genre: Kriminalromane und Thriller vom Reissbrett, die beim Mäiländer Verlag Mondadori seit den 20er Jahren im Corporate Design mit gelbem („giallo“) Umschlag erscheinen. Erst in den frühen 60er Jahren nahm der filmische Giallo in den stark von Hitchcock beeinflussten Streifen Mario Bavas Gestalt an. Zu Reife und Berühmtheit gelang das Genre schließlich durch die Schocker-Filme Dario Argentos, der sein Giallo-Output bis heute mit Horrorfilmen und Slasher Movies erweitert. Was genau ist ein Giallo? „Die gängigste Form des Giallo ist (…) die Geschichte eines Killers, der in maskierter oder vermummter Form, in der Regel mit Trenchcoat und schwarzen Handschuhen, zuschlägt, so dass der Zuschauer bis zum Ende miträtseln muss, wer der Täter ist. Darüber hinaus ist ein essenzieller Bestandteil die Ermittlung, bei der oftmals ein Unschuldiger in den Verdacht gerät, der Killer zu sein, weswegen er selbst aktiv wird. (…) Gleichfalls ergeht sich der Giallo sehr gern in der Psychologisierung seiner Figuren, zeigt in den Wahnsinn abdriftende Protagonisten und lebt von mehr als nur einem Hauch Paranoia”, so Fabio de Falcos Definition in seinem dem billigen Look der gelben Mondadori-Bändchen nachempfunden Pseudo-Lexikon „Giallo – die Farbe des Todes“. Es versteht sich von selbst, dass unter den hunderten Filmen, die in der Giallo- Hochphase zwischen 1970 und 1975 gedreht wurden, drei Viertel heute nur noch unter dem Gesichtspunkt von Partikularinteressen konsumerabel sind: Trash, Grusel, Style, Mode, vor allem: Musik.

Bruno Nicolai, Riz Ortolani, Gianni Ferrio, Stelvio Cipriani oder die Prog-Rock-Band Goblin
– sie alle haben bemerkenswerte Giallo-Scores abgeliefert. Aber niemand hat den Sound des Genres dermaßen geprägt wie Ennio Morricone. Orientiert man sich nur an den watteweichen Leitmotiven von Filmen wie „Il Gatto A Nove Code“ (Dario Argento, 1971),
„Una Lucertola Con La Pelle Di Donna“ (Lucio Fulci, 1971) oder „Giornata Nera Per L’Ariete“ (Luigi Bazzoni, 1971), dann fühlt man sich wie in der Badewanne der Regression. Doch der romantisch-melancholische Adagio-Pop in bester italienischer Schlagertradition wird immer wieder scharf kontrastiert. So ließ Morricone Angstzustände, Mordszenen und unheimliche Atmosphären nicht nur von harschen Dissonanzen, atonalen Streicher-Crescendi und Jazz- und Rock-Manierismen begleiten, sondern auch mit ätherisch-wortlosen Kantaten (intoniert von Edda Dell’Orso bzw. I Cantori Moderni di Alessandroni), psychedelischen Effekten, Minimalismen am Synthesizer sowie Sound-Effekten und Spielweisen, die der Improvisation und Neuen Musik entlehnt waren. Dieses Gerüst schuf der römische Komponist in seinen ersten drei Filmen für Argento. Dazu Morricone: „Hier habe ich das erste Mal im Kino, ja, ich glaube sogar grundsätzlich in der Geschichte des Kinos, mit einer aleatorischen, gestischen Schreibweise experimentiert. Das Orchester hielt sich an Strukturen, die ich, während ich dirigierte, auf gewisse Weise willkürlich zum Einsatz brachte. Und deshalb war die Schreibweise nicht an das Zeitmaß gebunden, geschrieben aus Pausen und Takten.
Daher also eine experimentelle Art, Filmmusik zu machen.“

Es sollten ungefähr 25 Soundtracks in dieser Sprache werden. Dabei war Morricones vor Avantgarde-Gesten strotzender Giallo-Sound eindeutig geprägt von seinen Erfahrungen als Mitglied der Improvisationsgruppe Nuova Consonanza, die sich 1964 in Rom gegründet hatte. Sie bestand aus wechselnden Mitgliedern, darunter internationale Protagonisten der Neuen Musik wie Franco Evangelisti, Roland Kayn oder Frederic Rzewski. Präparierte Klaviere, malträtierte Saiteninstrumente, scharrende Stühle,
arhythmische Percussion, überblasene Trompeten, Zweckentfremdung von Instrumenten
auf ihren Platten ließen Nuova Consonanza der Geräuschmusik freien Lauf. Morricone gesteht, dass die Improvisationsgruppe oft ohne Erwähnung auch bei vielen seiner Giallo- Scores mitgewirkt hat. Man hört das auch. Auf „Il Gatto A Nove Code“ gibt es Stücke wie
„1970“ oder „Passeggiata Notturno“, die sich nur insofern von offiziellen Nuova Consonanza-Veröffentlichungen unterscheiden, als dass sie von einem rhythmischen Korsett gestützt werden und Suspense-spezifischen, dramaturgischen Notwendigkeiten gehorchen.

Aber nicht nur Nuova Consonanza diente Morricone als Klanglabor. 1972 erschien die auf 10 LPs verteilte Reihe „Dimensione Sonori“ (als „Sound Dimensions“ wiederveröffentlicht), die sich Morricone mit seinem Kollegen Bruno Nicolai teilte. Eine Art Fake-Neue Musik ist das, unbestimmt im Sinne eines John Cage, immer darauf bedacht, die Bedeutung musikalischer Zeichen zu entleeren. Aus der hier praktizierten Freiheit speiste sich in einer Gegenbewegung die Konzentration und Verdichtung in Morricones Filmmusik. Im Grunde hat er dort nicht anderes betrieben, als eine Funktionalisierung avantgardistischer Klangsprachen. Dennoch – oder gerade deswegen
hörte sich Morricones Musik immer noch so gewagt an, dass sie der Filmindustrie nach einigen Jahren nicht mehr tolerabel erschien. Lakonisch merkt Morricone dazu heute an:
„Nach einigen Filmen, die ich mit einem solchen, mehr experimentellen Vorgehen gemacht hatte, kam es bei dem einen oder anderen Regisseur zu einigem Unbehagen. Mir kam zu Ohren, dass diese Art zu schreiben, doch zu kühn sei, und daher habe ich es geändert.“ Das war 1975 und für den heute 80-jährigen Musikbeamten, der an die 500 Soundtracks komponiert hat, keine große Beschränkung. Fortan, wie schon vor und während der Giallo-Phase, riss er Zuschauer und Hörer nun eben in anderen „Sprachen“ mit: symphonisch, rockig, elektronisch, poppig, folkloristisch…

Ennio Morricone: Crime & Dissonance (Ipecac / Import)
Ennio Morricone: Morricone Giallo (Cherry Red / Rough Trade) Ennio Morricone: Macchie Solari (Digit Movies / Import)
Ennio Morricone: L’Uccello Dalle Piume Di Cristallo. Expanded Edition (Cinevox / Import) Ennio Morricone: Il Gatto A Nove Code. Expanded Edition (GDM / Import)
Ennio Morricone / Bruno Nicolai: Sound Dimensions – Music for Images and Imagination (GDM / Import)
Gruppo d’Improvvisazione Nuova Consonanza: dito (Cherry Red / Rough Trade)

NZZ, 09.01.2009