James Ferraro – Far Side Virtual (Hippos In Tanks) (Originalfassung)

Als eine von ca. 25 Ferraro-Veröffentlichungen der letzten Jahre hätte wahrscheinlich auch „Far Side Virtual“ nicht allzu lange im Rampenlicht gestanden, wenn das Album nicht dank eines spezifisches Punktesystems bei der Auslotung der „release of the year“ in The Wire auf Platz 1 gelandet wäre. Das sorgte für mächtig Gesprächsstoff, hatte die Platte doch bei Erscheinen Ende 2011 kaum Aufmerksamkeit erzeugt. Zu Ferraros bisheriger Hypnagogic-Ästhetik markiert sie einen Bruch, wobei noch nicht ganz klar war, was davon zu halten sei. Jedenfalls lautet James Ferraros Gebrauchsanweisung für diese Platte (siehe http://alteredzones.com/posts/2167/artist-profile-james-ferraro): „If you really want to understand Far Side, first off, listen to [Claude] Debussy, and secondly, go into a frozen yogurt shop. Afterwards, go into an Apple store and just fool around, hang out in there. Afterwards, go to Starbucks and get a gift card. They have a book there on the history of Starbucks – buy this book and go home. If you do all these things you’ll understand what Far Side Virtual is – because people kind of live in it already.“ Dementsprechend trägt das Audio Food Titel wie „Global Lunch“, „Dubai Dream Tone“, „Palm Trees, Wi-Fi and Dream Sushi“ oder „Google Poeises“, und smart serviert werden: Billige Software-Startup-Sounds, grausigste Synth-Bläser und –Streicher, Klingeltonmelodien und Richard Claydermannscher Harmonieterror, Abflughallen-Muzak und Transitraum-Trance, Teezeremonie-Commercials und imaginierte Exotismen des globalen Entertainment-Kapitalismus… Natürlich will Ferraro das als „Stillleben des 21. Jahrhunderts“ verstanden wissen, selbstverständlich ist die Platte eigentlich als Soundtrack des digitalen urban lifestyle gedacht, und natürlich weiß Ferraro, dass er dabei an längst etablierte Ambient-Konzepte eines Brian Eno anschließt und diese bis zur Provokation überstrapaziert. Noch mehr kann sich Ferraro aber gewiss sein, dass seine Meta- bzw. Anti-Musik als willkommene Reaktion auf Simon Reynolds’ omnipräsente Retromanie-Diagnose gelesen wird. Denn nichts an „Far Side Virtual“ klingt tatsächlich „retro“, kein Sound badet hier in Referenzen an glorreiche Tage von Progressivität oder Transgression, noch werden New Age-Kindheitserinnerungen re-animiert. Was es gibt, ist die ganze Palette aktueller und kommender akustischer Zumutungen und musikalischer Banalisierungen. In Ferraros provokanter Überaffirmation bestehender Klangverhältnisse offenbart sich allerdings doch – trotz aller konzeptkünstlerischer Kühnheit – ein Denkfehler: Mögen die Sounds und synthesischen Instrumente, das ganze akustische Simulakrum, auch noch so frei von Retro-Orientierung sein und deshalb als „befreiend“ gefeiert werden – ihre musikalische Substanz ist es ganz und gar nicht. Allerliebste Melodien und grenzenlose Harmonie, nette Beats und fröhliche Flächen, hier ein Glockenspiel, dort eine freundliche Verzierung, und alles will dir nichts – das ist wirklich von vorgestern.

Testcard, 2012