MARSCH DER MINDERHEIT – DIE FRÜHEN LIEDERMACHER-RAVES DER BURG WALDECK (ORIGINALFASSUNG)

Die Festivalsaison ist wiedermal eröffnet – doch wie begann sie eigentlich hierzulande? Eine, wenn nicht die Mutter aller bundesdeutschen Pop-Festivals unter freiem Himmel waren die Liedermacher-Raves der Burg Waldeck. Zwischen 1964 und 1969 traf sich die folkloristische Internationale auf dem Gelände der Burg Waldeck im Hunsrück, um dort Festivals mit Chansons und internationaler „Folklore“ (wie Folk damals eingedeutscht wurde) zu feiern. Vom Studentischen Arbeitskreis der Arbeitsgemeinschaft Burg Waldeck ins Leben gerufen, entwickelten sich die Burg Waldeck-Festivals von überschaubaren Events mit circa 400 Besuchern bald zu großen Open Air-Veranstaltungen mit rund 5000 Zuhörern. So avancierten die Festivals auf dem Hunsrücker Waldgelände Mitte der 60er Jahre auch zum Zentrum der immer populärer werdenden deutschen Folk- und Liedermacher-Szene. Spätere Berühmtheiten wie Reinhard Mey, Hannes Wader oder Franz-Josef Degenhardt feierten hier ihre ersten Erfolge. Über 80 Sänger und Sängerinnen aus Deutschland und vielen Ländern Europas und sogar den USA waren auf dem Festival-Höhepunkt 1967 dabei, zum Teil wurden ihre Auftritte durch Sabotage-Akte (zerstörte Mikrofon-Kabel, abgeschalteter Strom usw.) behindert. „Das waren keine Festivals der Industrie oder von Konzertveranstaltern. Es waren Tummelplätze des frechen, ungegängelten, fröhlichen und ebenso kritischen Geistes, der im Lied seinen Ausdruck suchte und fand. Wer kommen wollte, kam, wer singen wollte, sang, fand Beifall oder wurde ausgepfiffen. Honorar gab es keines. Es war die Zeit des großen kulturellen Umbruchs durch eine Generation, die wir gewohnt sind, die ‚68er’ zu nennen. Die Festivals waren ein nicht geringer Teil dieses Umbruchs. Auch davon handelt diese Dokumentation“, schreibt Kompilator Helmut König rückblickend in den Linernotes der kürzlich erschienenen Doppel-CD „Burg Waldeck Festival 1967“. Die CDs dokumentieren nicht nur den Festival-Höhepunkt 1967, sondern über die Reflexionen in den Songs und Liedern indirekt auch das Lebensgefühl einer Generation und die damit verbundene radikale Politisierung. Tatsächlich lebt in den Stücken der Liedermacher die muffig-miefige, bundesdeutsche Wirklichkeit der 60er Jahre nochmal auf. Darüber, dass man als junger Mensch damals in einer repressiven Gesellschaft lebte, wo Altnazis und Rechtskonservative in den Chefsesseln und an den Hebeln der Macht saßen, kann kaum mehr Zweifel bestehen. Auch Herbert Marcuse hatte diese Tristesse in seiner extrem desillusionierenden Analyse „Der eindimensionale Mensch“ 1964 schon beschrieben und damit indirekt auch die spätere Linksradikalisierung der Studenten und Intellektuellen im Verdrängungswettbewerb von Wirtschaftswunder-Deutschland beeinflusst. „Einsteigen bitte und die Türen schließen / in der Geschichte aufrücken / auf jeden, nur nicht auf den Schaffner schießen / hinterher nicht vor dem Fahrpreis drücken“, heißt es in einem Stück von Nono Breitenstein. Ein Sänger namens Norbeart (wahrscheinlich von beard = Bart) Jan Mayer analysiert die „Deutsche Schizophrenie“: „Spieglein, Spieglein an der Wand / der vor mir steht, der ist mir unbekannt / und zeigst du mir auch mein Gesicht / ich schwöre dir, das bin ich, ich nicht“. Mit Zeilen voll beißender Ironie wie „dem Richard seine Frau hat SPD gewählt, dabei ist sie doch ansonsten ganz normal“ dokumentiert Walter Hedemann die erzkonservative „Kleinstadtidylle“; in „Hauptbahnhof Hamm“ schildert Reinhard Mey die triste Situation ausländischer „Gastarbeiter“ in der BRD; Hannes Wieder beschreibt die opportunistische Anpassung an die gesellschaftlichen Verhältnisse, und Hanns-Dieter Hüsch formuliert das Gegenprogramm seiner Generation: „Freunde, noch sind wir wenige / doch täglich werden wir mehr / wir sind weder Playboys noch Könige / und wir haben kein grausames Hehr / wir sind auf dem Marsch / für eine bessere Welt / für eine glücklichere Zeit / sind wir auf dem Marsch / auf dem Marsch der Minderheit“. Ähnlich wie die französischen Chansonniers beeindrucken die deutschen Liedermacher hier vor allem durch in gute Reime verpackte Gesellschaftskritik. Aus heutiger Sicht erinnernt das mehr an Rap als an deutschen Pop. Vertreter anderer Nationen weisen andere Qualitäten auf – die Italienerin Giovanni Daffini klingt ähnlich schön exaltiert wie Devendra Banhart, Spanier wie Juan Estellier bringen die emotional eindringlichste Performance, und die Amerikaner David Campbell, Hedy West und John Pearse steuern die besten Songs, das beste Fingerpicking und die lockerste Performance bei. Hier öffnet sich ein historischer Kontext, der weit über Dylan, Pete Seeger und Phil Ochs hinaus weist und bis auf amerikanische Folk-Traditionen des späten 19. und frühen 20. Jahrhunderts zurück geht. Auch in musikalischer Hinsicht gab es also genügend Abwechslung auf dem Waldeck-Festival 1967. Ein Jahr später war das Festival dann bereits so radikal politisiert, dass hauptsächlich Reden geschwungen wurden und sogar gefordert wurde, die Gitarren in die Ecke zu stellen, da sie nur von der „revolutionären Aktion“ abhielten. Eine weitere Veröffentlichung mit Aufnahmen der Festivaljahre vor und nach 1967 ist geplant. „Die Aufnahmen sind sämtlich live entstanden, zum Teil unter schwierigsten Umständen: Regen und Wind, Düsenjäger über dem Hunsrück, Ausfall der Stromleitungen, Gedränge“, schreibt Helmut König, „eben eine realistische Dokumentation.“

Olaf Karnik

Various Artists – Burg Waldeck Festival 1967 (2 CD Studio Wedemark / Indigo)

Herbert Marcuse gilt ebenso wie Theodor W. Adorno und Max Horkheimer als Vertreter der Kritischen Theorie. Sein Begriff der „repressiven Toleranz“ wurde in den 60er und 70er Jahren zum Schlagwort der Linken. Im Gegensatz zu Adorno, der sich vom Aktionismus der Studentenrevolution distanzierte, avancierte Marcuse zum „Professor der Neuen Linken“ und war auch mit Rudi Dutschke befreundet.

Hanns-Dieter Hüsch begann seine Bühnenkarriere schon 1947. Mit über 70 Kabarettprogrammen und diversen Buchveröffentlichungen gilt der „fahrende Poet“ als Altmeister des deutschen Kabaretts. Doch Hüsch ist nicht nur Dichter und Satiriker, sondern hat als Liedermacher auch einige ausgezeichnete Songs geschrieben. Zuletzt coverten Blumfeld Hüschs ergreifendes „Abendlied“ auf ihrem Album „Testament der Angst“.

Intro, 2005