Pop(ulismus) zeigt Flaggen (Originalfassung)

Ohne Not und jenseits von Sport und Spiel an Nationalstolz zu appellieren oder mit nationalen Symbolen zu kokettieren, dürfte wohl die weitverbreiteste Form von Populismus sein. Nicht nur der politische Populismus schwenkt Nationalfahnen, auch Pop zeigt Flaggen. Meist jedoch aus entgegen gesetzten Motiven. In manchen Kreisen ist es seit ein paar Jahren hip geworden, bundesdeutsche Farben und Symbole zur Schau zu tragen – das Berliner Label R.O.T. und dessen Band Mia oder die Kölner Mode-Designerin Eva Gronbach sind nur die bekanntesten Beispiele. Einerseits geht es dabei um ein populistisches Bekenntnis zur Nation (deren aktuelle Regierung sich richtigerweise und im Einklang mit der Bevölkerung gegen die Teilnahme am Irak-Krieg ausgesprochen hat); andererseits aber um die tendenziell a-politische Ästhetisierung nationaler Symbole – den Versuch also, die Farben und Symbole durch Verankerung in Popkontexten mit cooler Mehrdeutigkeit aufzuladen. Mit dem Ziel sich endlich in den Kreis der „großen Pop-Nationen“ einzureihen, folgt diese ästhetische Strategie im Umgang mit Schwarz- Rot-Gold blind den popkulturellen Verwendungsweisen der US-Flagge, des Union Jack und der jamaikanischen Rasta-Fahne. Dass diese fast immer durch gegenkulturelle Bedeutungstransformationen gekennzeichnet sind, wird dabei vergessen.

Archetyp aller popkulturellen Verwendung nationaler Zeichen ist die US-Flagge. Seit dem zweiten Weltkrieg steht sie nicht nur für „Freiheit“, „Demokratie“ und die imperiale Außenpolitik einer militärischen Supermacht, sondern ebenso für moderne Konsumkultur, ideologisch abgefedert durch den in der amerikanischen Verfassung für das Individuum garantierten „pursuit of happiness“. Mit Monroe, Presley, Coca Cola und Fast Food, vor allem mit der Pop Art (Jasper Johns’ Bilder der US-Flagge), gingen immer auch stars & stripes einher. Amerikanische Politik und Kultur verschwammen zu einem bunten Bild aus Demokratie, Macht und Befreierkultur. Erst mit Vietnam und den Repressionen gegen Black Power verschlechterte sich das politische Ansehen der USA in der Welt rapide, während mit Dylan, den Doors und Woodstock das „andere“ Amerika an Attraktivität gewann. Ein positives Bild der USA wurde gerettet durch Gegenkulturen, die sich ihrerseits auf die stars & stripes bezogen. So riefen die mit US-Flaggen drapierten MC 5 bei ihren Konzerten die Revolution aus, und Jimi Hendrix’ berühmte Dekonstruktion der US- Hymne „Star Spangled Banner“ 1969 in Woodstock ließ sich unschwer auch als symbolische Flaggenverbrennung interpretieren – freilich im Sinne eines anderen, besseren Amerika, das von der US-Flagge ebenfalls repräsentiert wäre. Auch Bruce Springsteens „Born In The USA“ samt stars & stripes-Cover ist weder als plumper realpolitischer Patriotismus zu verstehen, noch als bloß kritische Ironisierung. Die US-Fahne ist stets Verheißung möglicher Demokratie und potenzieller Freiheit, weshalb sie sich für Mainstream wie Gegenkulturen mit politischen Forderungen oder kulturellen Praktiken in Anspruch nehmen ließ. Doch seit dem jüngsten Irak- Krieg sind die stars & stripes als ambivalente Zeichen bis auf weiteres diskrediert. Sie verheißen nicht mehr auch Freiheit, sondern nur noch das Abenteuer von Krieg, Nationalismus und kultureller Homogenisierung.

Vor einem ähnlichen Schicksal sind die britischen Nationalfarben besser gefeit, weil deren historische Bedeutung von Subkulturen und Mode grundlegender transformiert wurde. Der Union Jack und das zum Mod-Target umfunktionierte Royal Air Force-Icon (Roundel genannt) dienen seit den 60er Jahren als starkes, von linken wie rechten Subkulturen umkämpftes Pop-Zeichen. Wie kam es überhaupt dazu, dass ein Emblem der britischen Luftwaffe zum Symbol für Jugend, Rebellion und popkultureller Distinktion werden konnte? Folgt man der Geschichtsschreibung von Filmen wie „Quadrophenia“, dann haben die Mods in den frühen 60er Jahren, neben Army- Parkern und Motorrollen, das RAF-Icon zum Erkennungs-Zeichen auserkoren. Andere behaupten, die ersten Mods hätten das Roundel noch gar nicht verwendet, sondern erst die Mod-Revivalisten ab den späten 70er Jahren. Tatsächlich waren es The Who, insbesondere deren Drummer Keith Moon, die das Roundel und den Union Jack Mitte der 60er Jahre popularisierten – womöglich als ironische Übernahme des Begriffs „British Invasion“, wie die über die USA hereinbrechende Welle britischer Popmusik von den Beatles, Rolling Stones, The Who u.a. in der US-Presse bezeichnet
wurde. So oder so, entlehnt ist die Neu-Kontextualisierung des Roundel der britischen Pop Art. Insbesondere Peter Blake, der 1967 das „Sgt Peppers“-Cover der Beatles gestalten sollte, hatte schon Mitte der 50er Jahre für seine Gemälde Zielscheiben, Pfeile oder Badges verwendet, wie sie dann im „Swinging London“ der 60er Jahre Mode, Design und Cover Art zierten. Aber Blakes Pop Art erging sich nicht im leichtfüßigen Spiel mit Ikonographien, sondern war zutiefst nostalgisch. Bilder wie „On The Balcony“ zeichnen ein tristes Bild der englischen Jugend in den 50er Jahren – dominiert von amerikanischer Popkultur, ohne eigenen Ausdruck. Dabei richtete sich Blakes Sehnsucht auf vergangene Epochen britischer Größe: die viktorianische und edwardianische Ära, die 20er Jahre. Insofern lässt sich die Mod-Adaption von Blakes nostalgischer Pop Art in den 60er Jahren als äußerst produktive Miss-Appropriation bezeichnen. Sie diente nicht nur dazu, der britischen Pop-Explosion der 60er Jahre ein hippes visuelles Element zu verleihen, sondern reflektierte auch die nationale Renaissance: Die ästhetische und ökonomische Modernisierung Großbritanniens korrespondierte mit einem neuen Nationalstolz, der auf POP fußte. Nicht wesentlich anders verhielt es sich Mitte der 90er Jahre mit Blur, Oasis und „Cool Britannia“. Heute hat sich das als „Mod-Target“ berühmt gewordene RAF-Roundel auch von seiner spezifisch subkulturellen Bedeutung emanzipiert – es ziert beliebige Kleidungsstücke und Accessoires oder auch die Limonadendeckel von Bionade. Noch im August 2004 unternahm übrigens das Ministry of Defense (MoD!) den Versuch, das Roundel als Markenzeichen für Kleidung zu schützen – erfolglos. Mit dem Hinweis, die blau-weiß-rote Zielscheibe sei nicht mehr auf die Royal Air Force zurück zu führen, sondern gehöre inzwischen zum Allgemeingut, wurde der Versuch gerichtlich abgeschmettert.

Noch bunter leuchten die jamaikanischen Farben. Die Nationalfahne und die zur Rasta-Fahne umfunktionierte Flagge Äthiopiens wehen für nichts anderes als Reggae bzw. Rastafarianismus. Sie werden bei Reggae-Konzerten und Parties auf der ganzen Welt geschwenkt. Seit der jamaikanischen Unabhängigkeit 1962 ist das politische und ökonomische Schicksal des Landes eng mit dem nationalen Musikbusiness verknüpft. Reggae ist in Jamaika Volksmusik sowie führender Exportschlager. Frühere Premierminister wie Edward Seaga waren zuvor als Musik- Produzenten tätig, der aktuelle Amtsinhabar P.J. Patterson hat als Roadmanager für die Skatalites gearbeitet. Und beim berühmten One Love-Konzert von 1978 gelang es erst Bob Marley, dass sich die rivalisierenden Politiker Michael Manley und Edward Seaga auf der Bühne die Hände reichten – stellvertretend für die berüchtigten Gunmen beider Parteien, die das Land immer wieder in Blutbäder stürzen. Obwohl sich die politische Klasse Jamaikas mit dem
„Weltkulturerbe“ Reggae schmückt, bleibt die Musikkultur wie eh und je, im Guten wie im Schlechten, dem Ghetto verhaftet – und bewahrt damit gegenüber der Politik eine eigentümliche Autonomie. So kommt es, dass eine reaktionäre Religion wie der Rastafarianismus eine eigene Popkultur samt Flagge, Rhetorik und Symbolik ausgeprägt hat, die internationalen Radius besitzt und nichts mit der jeweiligen Regierungspolitik zu tun hat, ihr aber per se opponiert. Da die jamaikanische Nationalfahne bis vor ein paar Jahren als Devotionalie noch nicht üblich war, verwechselten nicht wenige Reggae-Fans die Rasta-Fahne der Popkultur mit der Nationalflagge.

Wie die britischen Cultural Studies gezeigt haben, umfasst die Schöpfung kultureller Stile eine differenzierende Selektion aus der Matrix des Bestehenden. Laut John Clarke „kommt es nicht zu einer Schaffung von Objekten und Bedeutungen aus dem Nichts, sondern vielmehr zu einer Transformation und Umgruppierung des Gegebenen in ein Muster, das eine neue Bedeutung vermittelt; einer Übersetzung des Gegebenen in einen neuen Kontext und seiner Adaption.“ Diese Methode war vor allem als gegenkulturelle Praxis wirksam. Wo sich aber in Deutschland Subkulturen kaum mehr als Gegenkulturen verstehen, werden die alten, strategischen Waffen der Transformation, Neu-Kontextualisierung und Adaption im Umgang mit bundesdeutschen Symbolen stumpf und wirkungslos: eben weil nichts mehr im Sinne einer neuen Bedeutung transformiert oder neu kontextualisiert wird, sondern nationale Symbole mehr oder weniger direkt affirmiert werden. Im Zusammenhang mit der pop-nationalistischen Forderung nach einer Radio-Quote für deutsche Musik mutiert schließlich noch der letzte ambivalent gestrickte Designer-Pulli zur Stangenware des Populismus.
Wo die deutsche Fahne noch symbolträchtig neben den stillgelegten Autobahnen der Gegenkultur flattert, ist sie tatsächlich eher ein Beleg für das Ende der Internationalisierung nationaler Popkulturen, wie man sie kannte. Dagegen organisieren verbliebene Subkulturen sich längst als internationale Netzwerke, die länderübergreifend gemeinschaftlichen Codes folgen.
Insofern war die letzte „klassische“ Transformation und Neu-Kontextualisierung von Zeichen der globalisierte, militärische Camouflage-Wear – just seitdem die Kriegseinsätze auf dem Balkan, in Afghanistan oder im Irak von multi-nationalen Truppen geführt werden. Das ist schon deshalb nicht populistisch, weil nie genau klar ist, ob Camouflage-Wear nun „dafür“ oder „dagegen“ bedeutet.

The Populist – Frankfurter Kunstverein, 2005