Reviews Brainfood (Originalfassung)

DUB – SOUNDSCAPES & SHATTERED SONGS IN JAMAICAN REGGAE

Michael E. Veal
(Wesleyan University Press)

Dieses Buch war längst überfällig – hat doch Dub wahrscheinlich mehr zur weltweiten Verbreitung und Anerkennung von Reggae beigetragen als Generationen von Artists nach dem Tod Bob Marleys. Denn die musikalischen Strukturen und Dramaturgien, die sich in den „soundscapes“ und „shattered songs“ von Dub offenbaren, inspirieren bis heute zahlreiche Musiker und Produzenten aus den unterschiedlichsten Genres. „Dub turned the mixing and sound processing technologies of the recording studio into instruments of composition and real-time improvisation”, so bringt Veal die musikalische Revolution auf den Punkt. Auch wenn Dub seit Mitte der 80er Jahre in Jamaika keine Rolle mehr spielt und dort selbst weltberühmte Dub-Meister wie King Tubby, Lee Perry oder Scientist in Vergessenheit geraten sind, so hat sich die Sound-Ästhetik und Produktionsmethode von Dub global wie ein Virus verbreitet. In den letzten 30 Jahren hat Dub nicht nur so unterschiedliche Stile wie Krautrock, Disco, Punk und New Wave, Afrobeat, HipHop, Ambient, Postrock, TripHop, Jungle, Techno und Dubstep beeinflusst, sondern auch das Sound-Design elektronischer Instrumente und die Funktionen digitaler Musiksoftwares auf die eine oder andere Weise affiziert. Heute ist Dub überall – und grundlegend für DJ- Mixes, Post-Produktionen und elektronische Musik aller Art.
Aber gerade die Allgegenwärtigkeit von Dub bringt seine Geschichte zum Verschwinden, und dies dürfte für den Ethnomusikwissenschaftler Veal Anlass gewesen sein, die Ursprünge von Dub zu rekonstruieren und dessen musikalische und soziale Bedeutung in der jamaikanischen Musikkultur zu erforschen. Vergegenwärtigen wir uns mit Veal also nochmal, was Dub war und geleistet hat: Dub ist die Mutter aller Remixe. Es ist eine Methode der Klangmanipulation, die Anfang der 70er Jahre von sogenannten Engineers wie King Tubby, Lee Perry oder Errol Thompson popularisiert wurde. Definieren lässt sich Dub als radikale Neubearbeitung eines fertig produzierten Vokal-Stücks oder Instrumentals, dessen musikalische Bestandteile mit sogenannten Klangwerkzeugen – wie es King Tubby nannte – behandelt werden. Dazu zählten u.a. Echo und Hall, Drop Outs, lange und kurze Verzögerungen, extreme Höhen und Tiefen bei der Klang- Auspegelung, Flanger- und Phasing-Effekte, Noise Gates, Echo-Feedback, Tonband- Manipulationen. Auch per Mikro aufgenommene Natur- und Umwelt-Geräusche oder Medien-Geräusche wurden über das Mischpult im Dub-Mix verteilt. In seinem Buch unterscheidet Veal grob zwischen subtraktiven (Aus- und Einblenden der Vokalspuren und einzelner Instrumente) und additiven (Hinzufügung externer Klangquellen) Methoden. Am Beispiel ausgewählter Dub-Mixe zeigt Veal, wie King Tubby und seine
„Schüler“ (u.a. Philip Smart, Prince Jammy, Scientist) die subtraktive Methode perfektioniert haben, während Lee Perry und Errol Thompson mit Geräuschen und Sound-Effekten bizarre Klang-Collagen kreiert haben.
Mit Sicherheit lässt sich Dub als die experimentellste Musik bezeichnen, die Jamaika jemals hervorgebracht hat, und Veal unterlässt keinen Versuch, ihre klangästhetischen Errungenschaften hervorzuheben. Völlig zurecht rückt der Ethnomusikwissenschaftler Dub sogar in die Nähe avantgardistischer „E-Musik“ (Minimal Music, Musique Concrète, Elektronische Musik) und spekuliert über der Einfluss der psychedelischen Rockmusik auf Dub – all dies aber nur am Rande. Denn in erster Linie widerlegt Veal das aus solchen Vergleichen entstandene Vorurteil, dass Dub im Yard keine Rolle gespielt habe. Veal hat umfangreiche Recherchen in Jamaika angestellt und bietet Zeitzeugen von Bunny Lee über Philip Smart und Jammy bis Scientist auf, um zu belegen, wie sehr Dub mit der Sound System-Kultur verhaftet war, ja sogar aus ihr hervorging. Damals rannten Soundboys und Produzenten Tubby die Bude ein, um sich Dub Specials mixen zu lassen, die erst beim Dance als Riddim für Live-Deejays zum Einsatz kamen und später auch als Tonträger veröffentlicht wurden. Dass Dub Versions in Jamaika vornehmlich als
„Material“ für Deejays fungierten, sicherte Tubby & Co. zwar den Unterhalt, wurde aber auch als Missachtung ihrer Kunst wahrgenomen. Umso freuten sich die Dub-Meister über
ihre Wertschätzung in Europa und Nordamerika, wo Dub als Sound-Avantgarde im Dreiminutenformat gefeiert wurde.
Es sind nicht nur die vielen interessanten Details, die Veals Buch so lesenswert machen. Vor allem die Doppelperspekive, aus der Veal das Phänomen betrachtet, ist erhellend. Als Musikwissenschaftler geht Veal wirklich ins Detail – er analysiert die Mixing-Strategien einzelner Engineers, erläutert die unterschiedlichen Funktionen der Mischpulte, die ihnen in den Studios zur Verfügung standen und zeigt, wie Tubby & Co. sich bei ihren radikalen Klangmanipulationen nicht von technischen Begrenzungen aufhalten ließen. So lebt die musikalische Revolution beim Lesen und anchließenden Nachhören der Dubs nochmal auf.
Aus kulturtheoretischer Perspektive rückt Veal Dub in die Nähe zum Impressionismus, der abstrakten Malerei eines Jackson Pollock oder zum magischen Realismus in der Literatur. Veal interpretiert Dub als postmoderne Musik per se, vor allem aber als genuinen Ausdruck postkolonialer Identität, wo die fragmentarische, diskontinuierliche Sprache der Musik mit ihrem Spiel aus An- und Abwesenheit, aus Hall, Echo und Verfremdung zum Ort der Heraufbeschwörung eines afrikanischen kulturellen Gedächtnisses wird. Dub als Geschichtsschreibung, Dub als klangsprachliche Theorie – all das und mehr wird von Veal ausführlich erörtert, ohne dabei auch nur ansatzweise sein akademisches Ego aufzuplustern. Insofern gelingt hier, was nur wenige Autoren schaffen
– die Liebe zur Musik durch die zur Reflexion unabdingbare Distanzierung noch zu vergrößern. Standardwerk!

Riddim, 2007