NACHTGÄNGE MIT BOHREN & DER CLUB OF GORE (ORIGINALFASSUNG)

Text und Interview: OLAF KARNIK

Bohren & der Club of Gore kommen aus Mülheim an der Ruhr. Wer schon mal am dortigen Bahnhof auf eine Verbindung wartete, weiß, was soziale Trostlosigkeit und ästhetisches Elend bedeuten. Seit knapp 10 Jahren imaginiert sich die Gruppe (Schlagzeug, Bass, Keyboards), zu der vor einigen Jahren der Kölner Saxophonist Christoph Clöser stieß, eine Gegenwelt aus Splatter-Movies, Black Metal-Images, Film Noir-Evokationen und makaberer Todes-Metaphorik. Der instrumentale, von Doom-Metal (abzüglich Rockgitarre und Grunzen) beeinflusste Bohren-Sound in all seiner unendlichen Langsamkeit, düsteren Schwere, süßen Melancholie und schwebenden Intensität ist weltweit einzigartig. Die neue Platte heißt „Black Earth“ und klingt wie das Elend das Welt. Oder eher, wie Musik nach dem Ende der Welt.

Aus verschiedenen Perspektiven nähert sich die Kamera einzelnen Überbleibseln einer in Schutt und Asche gefallenen Erde: Ruinen, erloschenen Vulkanen gleich, versteinerte Menschenstatuen, Skelette; zu einem kulturellen Muster angeordnete Knochen, dessen Bedeutung lässt vergessen ist; Bilderrahmen, in deren Mitte sich nur noch das schwarze Nichts befindet – für den Clip zu „Midnight Black Earth“ (er)findet Mark Sikora kongeniale Bilder zur Bohren-Musik. Oft ist ihr atmosphärischer, moody Sound mit Filmmusik verglichen worden, mit „Blade Runner“ oder Angelo Badalamentis Soundtracks für die Filme David Lynchs. Auch der Begriff „Horrorjazz“ fiel. Die Gruppe kennt die Vergleiche, weist sie aber von sich: „Bohren, das ist zeitlose Musik, absolut eigenständig und in jeder Hinsicht einfach. Das ist sehr langsam erarbeitete Musik, über die wir uns eine Menge Gedanken gemacht haben, auch wenn man das der Musik gar nicht anhört“, erklärt der Saxophonist Christoph Clöser.

Dass Bohren & der Club of Gore eine synästhetische Wahrnehmung triggern und damit beim Hörer einen imaginären oder symbolischen Bildbetrieb in Gang setzen, steht dennoch außer Frage. Man könnte auch sagen: die Musik von Bohren klingt genau so wie die letzten drei CD-Cover aussehen (ihr mittlerweile vergriffenes Debut „Gore Motel“ ausgenommen).
Midnight Radio: Wärme im Dunkeln geben die orangen Lichter der Straßenlampen und die gelb-orange Schrift auf dem Cover. Die nächtlich erleuchteten Autostraßen und Schienenstränge verheißen eine räumliche Weite, die dem musikalischen Prinzip der extremen zeitlichen Dehnung bestens entspricht: nach 140 min. „Midnight Radio“ guckt man aus dem Fenster und die Autos fahren langsamer. Der walkende Bass hat etwas Suchendes, das sanft tastende Fender Rhodes etwas Zärtliches. Die starken Resonanzen von Bass und Tasten verleihen der Musik eine fast skulpturale, körperliche Aura. Die Dunkelheit ist voller Leben, noch in der abweisendsten Betonsiedlung leuchten die Lichter in den Zimmern extrem hell: Musik wie Glut, die erst noch zu Asche wird.
Sunset Mission: wieder dieselben, nachts von Licht angestrahlten Hochhäuser im CD-Booklet, aber auch leere U-Bahnstationen, ein Beerdigungsinstitut, die Nachttankstelle mit Alkoholika, das Schaufenster eines Waffenladens – Nachtgänge mit Bohren in den Farben schwarz, orange, gelb, mattweiß, lindgrün… Schwüle schwelt in der Musik, es ist Frühling, Sommer, Zeit der Sommergewitter. Blätter an den Bäumen, die etwas flüstern (das Saxophon tut es), statt Fender Rhodes jetzt synthetische Flächen und Klavier – die Cool Jazz-Konnotation. Bohren sind auf dem Höhepunkt ihrer Melancholie, die Musik klingt traurig und glücklich zugleich, sie schließt andere Zeiten als Stilepochen mit ein („Referenzen“ machte sich als Wort gut) – so, als würde jemand mit einem weinenden Auge auf etwas zurückblicken, was vorbei ist und mit dem anderen Auge eine neue Zukunft aufblitzen sehen. Hier sprühen kleine Funken, Glühwürmchen im Sommerregen – manche werden davon erschlagen.
Black Earth: nur noch schwarz, als Logo ein Totenkopf mit Einschussloch. Eisig, elendig, Endzeitmusik. Das Mellotron erinnert an einen elegischen Trauerchor, das Saxophon kommt aus der Leichenhalle, einzig das Fender Rhodes sorgt für schwach wärmenden Nachhall. „Bei ‚Sunset Mission’ war das Klangbild vielleicht ein bisschen versöhnlicher, aber im Prinzip nagen wir an demselben Knochen weiter. Unsere Musik ist wahrhaftig und auf eine bestimmte Art ernst. Sie ist nicht augenzwinkernd in einer Zeit, wo alles augenzwinkernd ist. ‚Black Earth’ ist der goldene Schnitt aus ‚Midnight Radio’ und ‚Sunset Mission’ – eine Weiterentwicklung, ohne dass man sich neu erfunden hat“, interpretiert Christoph Clöser. Man hat musikalisch aufs eigene Werk geschaut, aber stimmungmäßig in den Abgrund. Trotz bleierner Schwere schleicht sich manchmal wieder die schöne Leichtigkeit der Melancholie ein – ausgerechnet in Stücken mit Titeln wie „Grave Wisdom“, „Constant Fear“ oder „Skeletal Remains“. Aber dann weht plötzlich ein eisiger Wind durch die Klanglandschaft, der uns daran erinnert, wie spät es eigentlich ist. Asche.

Ist die Zeit auf der Seite von Bohren? „Ich privat hoffe nicht, dass wir den Soundtrack für die Zukunft machen – dann sähe es böse aus. Aus der Musik spricht ja etwas Fatalistisches. Sie ist nicht resignativ, hat aber was von Stillstand. Der wird ja oft als ganz lähmend empfunden. Wir sehen das anders: Es ist ein See, du wirst einen kleinen Stein rein, der macht Wellen, man wartet, bis Ruhe ist, dann kommt der nächste kleine Stein. Das ist mein Bild für Stillstand“, erläutert Clöser. Die letzte apokalyptische Ballade auf „Black Earth“ heißt „The Art of Coffins“ – die Kunst des Sargs. Ich frage Clöser, auf wessen Beerdigung Bohren gerne mal spielen würden? „Das gibt wieder Ärger, wenn ich dazu was sage… Ich glaube, wir würden auf einer Beerdigung nicht spielen, das ist doch Scheiße. Eher auf einer Hochzeit!“

Intro, 2002