Musikvideo – Hybrid im Spannungsfeld von Popmusik und Kurzfilm, Musikindustrie und Musikfernsehen (Originalfassung)

Mittel zum Zweck
Musiker, Bands und Stars, die auch nur zweistellige Verkaufszahlen erzielen wollen, kommen heute nicht mehr umhin, Musikvideos produzieren zu lassen. Für Promotionzwecke und aus marketingtechnischen Gründen, zur Ankurbelung des Produktabsatzes hat sich der Clip als effizientes Mittel bewährt – sofern er bei seiner Distributionsstätte, dem Musikfernsehen, auf Anklang stößt, d.h. auf Rotation geht. Dann wirkt das Musikfernsehen als Beschleuniger und Multiplikator, es kann einzelne Acts
„groß raus bringen“ – eine Machtposition, die früher das Radio allein inne hatte. Nur, dass es dort eben nichts zu sehen gibt – was aber auch bedeutet, dass prinzipiell jede auf Tonträgern festgehaltene Musik zu Gehör gebracht werden kann. Wer aber heutzutage zur Musik keine Clips produziert oder wessen Clips nicht ausgestrahlt werden, läuft mittlerweile auch Gefahr, erst gar nicht gehört zu werden und spielt als Umsatzgarant für die Musikindustrie nur eine marginale Rolle.

Zwischen Musikfernsehen und –industrie besteht ein ebenso symbiotisches Verhältnis wie zwischen Clip und Programm – nicht nur aufgrund der ökonomischen Verflechtung1. Auch historisch bestand von Anfang an eine Liaison. Denn die Entstehung (MTV, 1981) und Entwicklung (MTV, 1981ff.; VIVA; Onyx, 1993ff.) des Musikfernsehens lässt sich allein aus der musikindustriellen Notwendigkeit erklären, ein Abspielmedium für Videoclips zu finden.
Schon Anfang der 80er Jahre, als „Radio Star“ symbolisch gekillt (The Buggles: „Video Killed The Radio Star“) und die Visualisierung von Popmusik mittels Videoclip durchgesetzt wurde, haben sich Künstler und Musikindustrie davon imagegenerierende Wirkungen und marketingstrategische Steuerungsmöglichkeiten versprochen. Diese Rechnung ist voll aufgegangen. Als „Werbemedium“ für das käuflich zu erwerbende Musikprodukt (CD, LP, MC) bzw. Produktumfeld (Konzert, Party) hat Musikfernsehen längst das Radio überholt.

Mit der Visualisierung von Audio werden aber nicht nur Images transportiert und damit Kaufanreize geschaffen, sondern gleichzeitig eigenständige, nicht wirklich warenförmige Produkte (die Clips) hergestellt: Bis auf einige wenige Ausnahmen bei bekannten Stars, wo Zusammenstellungen von Clips als Kaufcassetten erhältlich sind, ist allerdings nur die Musik käuflich erwerbbar, nicht der einzelne Clip. Clipkonsum findet in der Regel also in Abhängigkeit von der Distribution im Musikfernsehen statt. Gegenüber Tonträgern und CD-Roms ist der Gebrauchswert von Clips gering, und im Vergleich etwa zu Konzert oder Festival tendiert deren Ereignischarakter gen Null. Schließlich werden Musikvideos kaum kontemplativ-konzentriert oder mehrfach betrachtet und auch nicht gesammelt oder verschenkt. Vom Zuschauer des Musikfernsehens werden sie – im Kontext anderer Clips
– zufällig gesehen bzw. beiläufig wahrgenommen. Das aktuelle Madonna-Video kann man nicht zu einer bestimmten Uhrzeit im Fernsehen einschalten.

Clips ausstrahlen strahlt ab
Wie in keinem anderen TV-Programm fungiert der einzelne Clip im Musikfernsehen lediglich als Strukturelement, als atmosphärisches Treibgut im Fluss der sounds and visuals, versunken im Kontext. Was zählt, ist die signifikante Struktur: die „Musikfarbe“ des Formats oder die stilistische Orientierung des Programms. Rund um die Programmierung von Musikvideos nach verschiedenen senderspezifischen Kriterien stellt das Musikfernsehen eigene Programmbestandteile her. Es ist somit Ort fernsehtypischer


 

1 Beispiel VIVA: „Die Aktionärsstruktur der VIVA Media AG repräsentiert eine einzigartige Verbindung von Musik-, Entertainment- und Fernseh-Unternehmen“, heißt es auf der Homepage der VIVA Media AG. Zu Aktionären aus der Musik- und Entertainmentindustrie zählen hier u.a. AOL Time WARNER, EMI und VIVENDI Universal, die jeweils 18,9 % Aktienanteile halten (Stand: 13.07.01). Vgl. www.vivamadiaag.com; investor relations.


Produktion im klassischen Sinn: Moderation, Trailer, Shows, Features usw. Dadurch gewinnt auch das Territorium des Musikfernsehens Erlebnisattraktivität. Es wird zu einem Zentrum der Popkultur, empfängt Starbesuche, beherbergt Live-Publikum, schirmt Zaungäste ab. Das Ereignis findet nicht nur im Fernsehen statt, sondern auch vor Ort.
Musikfernsehen strahlt nicht nur aus, sondern auch ab. Es fungiert nicht nur als Fenster zur Popkultur, sondern ist selber zum Bestandteil von Pop geworden. Denn erst das Zusammenspiel von Clips, Moderatoren und innovativen Formaten prägt Alltagsinzenierungen von Pop als Lebensstil. Es konditioniert und programmiert Verhaltenscodes der Zuschauer. Nicht nur in ökomomischer, auch in rezeptionsästhetischer Hinsicht ist es daher angebracht, Musikvideos und Musikfernsehen als Komplex zu betrachten.

Jenseits vom individuellen und kollektiven Ge- und Verbrauch erhält Popmusik Wert und Bedeutung durch das, was über sie gesagt, geschrieben, in sie hinein und aus ihr heraus gelesen, wozu sie zum Anlass genommen wird usw. Die Geschichte der Musik ist immer an die Verfügbarkeit ihrer Produkte, Diskurse und Ereignisse geknüpft gewesen. Damit verglichen hat die Geschichte des Musikvideos gerade erst begonnen. Die Zeitzeichen, die sich im Musikvideo materialisieren, seine bildgebende Macht, seine Ästhetiken, Themen und Rhetoriken – all das wird erst lesbar, indem der Clip dekontextualisiert und eine andere Programmatik als die aktualitätsfixierte des Musikfernsehens überführt wird. Beispielsweise durch Sonderprogramme auf Festivals (wie seit 1998 bei den Internationalen Kurzfilmtagen Oberhausen), in Museen oder Galerien (z.B. Deutsches Filmmuseum Frankfurt, 1993; Kunstverein Köln, 1996) oder im Fernsehen selbst (z.B. die sechsteilige Reihe „Fantastic Voyages – eine Kosmologie des Musikvideos“ auf 3-Sat, 2000) wird ein genauer Blick auf cliphistorische und -thematische Entwicklungen, unterschiedliche Autoren-Sprachen und nationale Besonderheiten ermöglicht.

Coded Language
1986 – als der Musik-Clip, wie wir ihn heute kennen, kaum 10 Jahre alt war, die Geschichte der Synchronisierung von Sound & Vision aber bereits mehr als ein halbes Jahrhundert hinter sich hatte – versuchte sich Peter Weibel an einer Definition des damals noch besonders kulturpessimistisch angefeindeten Clips. Für Weibel war Ausschlag gebend, dass bei der Produktion von Musik-Clips auf die fertige Schallplatte eine illustrierende, manchmal auch nur assoziative Bildplatte geknallt wird – dass also nicht passiere, was dem zeitgenössischen Produktionsniveau entspräche, nämlich die Töne und
Bilder aufeinander zu beziehen, bevor sie fertig sind, sie miteinander entwickeln und wachsen zu lassen, sie bei der Entstehung aufeinander abzustimmen.2 Für Weibel war Popmusik schon damals nichts „Echtes“, sondern ein System von Codes und Logos. Der Musikclip galt dementsprechend als „Picture-Pop“, über dessen kommerzielle Funktion
keinerlei Zweifel bestand. Trotzdem, so Weibel, handele die Clipkultur mehr von der gegenwärtigen Welt als der Großteil der Hochkultur. Musik-Videos stellten eine zweite Phase der Pop-Art dar und seien ein Hybrid von Avantgarde-und Werbefilm, von Musikfilm und Bühnenbild, von Computergrafik und Lasereffekten, von Film und Video, von High Technology und Low Performance, von Kunst und Kommerz, von Visual Music und Psychedelia, von Comics, Cartoons und Kinematographie, von Design und Make-up, von Licht, Tanz, Musik, Körper, von Modefotografie, von Broadway-Ballett und digitalen Effekten. Das Genre Musik-Clip stehe im Zentrum einer neuen Ästhetik – daran geknüpft sei eine Industrie und die Tatsache, dass Video-Clips gelegentlich weit teurer seien, als das Musik-Produkt, für das sie werben. Das sei der Grund, weshalb auf den Videos mehr künstlerische Freiheiten möglich seien, als auf den Schallplatten selbst.

In weiten Teilen kann Weibels Analyse noch heute Gültigkeit beanspruchen. Allerdings verwechselt er „künstlerische Freiheiten“ im Clip mit ökonom-ästhetischen Notwendigkeiten. Geht man davon aus, dass sich Veränderung und Stagnation in der Popmusik in bestimmten Zyklen vollziehen, die Musikindustrie aber zu jeder Zeit


 

2 vgl. hier und im Folgenden Peter Weibel: Musik-Videos. Von Vaudeville zu Videoville, in: Veruschka und Gábor Bódy (Hg.): Video in Kunst und Alltag. Vom kommerziellen zum kulturellen Videoclip. Köln, DuMont 1986, S. 27ff.


 

maximalen Umsatz erzielen will, müssen Clips – als Mittel zum Zweck – jederzeit und immer wieder neu die Attraktion der Musik steigern. Wo „Qualität“ längst zum diffusen Begriff geworden ist und „das Neue“ heute als Hauptkriterium für die Unterscheidung gut/schlecht gilt, stehen Clips unter ständigem und höherem Innovationsdruck als die Produkte, für die sie werben. Deshalb macht der Clip Anleihen bei allen erdenklichen Künsten und Medien, Techniken und Genres. Aufgrund des Innovationsparadigmas sind im Clip-Genre – neben einem voraus zu setzenden Musikverständnis – ein Maß an kreativem Input und ein handwerklichem Können erforderlich, wie es ansonsten nur in der Filmbranche anzutreffen ist. Nicht umsonst zielten und zielen Karrieren von herausragenden Clip-Regisseuren wie Julian Temple in den 80ern, Hype Williams und Spike Jonze („Being John Malkovitch“, 1999) und demnächst auch Chris Cunningham und Michel Gondry deshalb auf die Kino-Leinwand.

Vision & Sound
Zwar stehen Clips in der Funkion der Musik, gehen aber darin nicht auf. In den avancierten Clip-Produktionen der letzten vier bis fünf Jahre gibt es sogar die Tendenz, dieses Verhältnis umzukehren. Das Nebenwerk Clip steigt zur Hauptsache auf. Chris Cunningham hat in seinen Musikvideos die Musik zum bloßen Soundtrack für seine kinematographischen Exkursionen reduziert. Seine Arbeiten für Aphex Twin („Come To Daddy“, 1997), Squarepusher („Come On My Selector“, 1998), Leftfield („Africa Shox“, 1999) und Björk („All Is Full Of Love“, 1999) thematisieren auf unterschiedliche, sehr poetische Weise Themen wie (Post-)Humanismus, suburbanen und urbanen Horror oder die Mensch/Maschine-Relation – wobei der Musik eine mal illustrierende, mal dramaturgische Funktion zukommt. Eindeutig steht sie aber im Dienst der Bilder, nicht umgekehrt. In Cunninghams knapp elfminütigen Clip „Windowlicker“ (1999) ist Aphex Twins Musik schließlich nur noch in Teilen zu hören: Sie wird gänzlich den Erfordernissen der Story unterworfen, d.h. zerstückelt und von Dialog-Sequenzen unterbrochen. Ähnlich hatte auch schon Spike Jonze beim Clip zu Daft Punks „Da Funk“ (1997) gearbeitet. Der Musik – eigentlich das zentrale akustische Element in Musikvideos – kommt nur begleitende Funktion zu: Sie bildet den Hintergrund für eine nächtliche Geschichte in den Straßen von New York, samt Geräuschen und Dialogen.
Und auch Mike Mills hat das Prinzip „Musik als Hintergrund“ im Musikvideo zu „All I Need“ (1998) für Air angewandt: Im Vordergrund des kurzen Dokumentarfilms über das Leben zweier verliebter Teenager in Kalifornien stehen Interviews und Gespräche über das Thema Liebe.

Solch radikale Umkehrungen der Gewichtung von Sound & Vision im Videoclip bleiben natürlich die Ausnahme. Aber auch bei vielen anderen, konventionelleren Musikvideos der letzten Jahre fällt auf, wie der Verve der Musik bzw. die Wandelbarkeit bestimmter Star- Personae zum Anlass für Ausehen erregende Bildgebungen genommen wird.
In seinen Clips für R&B- und HipHop-MusikerInnen wie Busta Rhymes, Missy Elliot oder TLC hat Hype Williams Körperproportionen und Raumperspektiven auf eine Weise verzerrt und neu arrangiert, wie man es bis dato nur aus der Welt der Comics und Cartoons kannte.
Michel Gondry hat Pop-Stars wie Björk oder Beck in aufwendig gestaltete, surreale Traumwelten versetzt, wo sich überdimensionierte Bücher selber schreiben und Menschen auf der Straße Autos tragen. Und Flora Sigismondi hat mit ihrer am deutschen Filmexpressionismu der 20er Jahre geschulten Clip-Ästhetik entscheidend zur Inszenierung von Marylin Mansons bedrohlicher Star-Persona beigetragen.
Mit subjektiver Kamera und synchron zur drängenden Musik von The Prodigy („Smack My Bitch Up“, 1997) hat Jonas Äkerlund die rauschhaften Exzesse im Nachtleben festgehalten, und bei Antoine Bardou-Jaquets Clip zu Alex Gophers „The Child“ (1999) spielt die auf den Songtitel anspielende Geschichte des Taxi-Transports einer Hochschwangeren ins Krankenhaus in einer Umgebung, wo Menschen, Autos und Häuser nur aus den Wörtern bestehen, die sie bezeichnen – eine grandiose zeichentheoretische Reflexion über die Omnipräsenz der Signikanten und die Abwesenheit der Signifikate.
Der visuelle Referenz-Kosmos von Musikvideos kennt keine Grenzen – denn immer wieder müssen sie für die Musik, die in einer spezifischen Welt verankert ist, neue symbolische Welten erschließen, um ihre Reichweite zu vergrößern. Daher sind Clips oft verblüffender als die Musik, die sie repräsentieren.

Picture Pop
Man muss aber gar nicht die exponierten Vertreter des Clip-Genres heranziehen, um zu betonen, dass Clips per se über das Musik-Produkt hinaus weisen, auf das sie hinweisen. Indem Clips etwas, das in der Musik thematisiert wird, intensivieren oder indem sie hinzufügen, was aus der Musik selbst nicht spricht, wird „the look of the sound“ (John Whitney) selbst zur Attraktion – das gilt im Prinzip noch für den einfallslosesten Performance-Clip.
Konservative Musiker beklagen sich dann auch seit den Anfangstagen des Musikvideos immer wieder, durch Musikvideos werde die Phantasie des Musikhörers mit vorgefertigtem Bildmaterial besetzt, so dass eine freie und eigene, nur von der Musikrezeption geleitete Bilder-Assoziation nicht mehr stattfinden könne. Dem wäre zu entgegnen, dass die Phantasie von Musik-Konsumenten immer schon kulturindustriell und multimedial bearbeitet wurde – angefangen von Plattencovern und Fan-Artikeln über Poster in Zeitschriften bis zu Konzert- und Musikfilmen. Aus jener Haltung spricht vor allem eine Furcht vor der Attraktion des „looks“, die ein Goutieren der Musik nicht notwendigerweise mit einschließt. Denn Bilder wirken – egal, ob sie Musik transportieren oder nicht – immer auch eigenmächtig. So kommt es, dass man sich an Szenen aus Musikvideos erinnert, die dazugehörige Musik aber längst vergessen hat. Clip-Regisseure machen schließlich keine Musik, sondern „Picture Pop“. Um es mit Jim Farber zu sagen:
„Video directors reprove what good film directors knew all along – that visuals an also be music. When executed with élan, an edit becomes a backbeat, a crane shot a solo, a close-up a hook.”3


 

3 zit.n. Jim Farber, „the 100 top music videos“, Rolling Stone, October 14, 1993, in: Steve Reiss/Neil Feineman (Hg.): Thirty Frames Per Second. The Visionary Art Of The Music Video. New York, Abrams 2000, S. 24.


 

Dieser Text ist eine überarbeitete Fassung von Texten, die in den 1998-2000 für die Festival-Kataloge der Internationalen Kurzfilmtage Oberhausen entstanden sind.


Musikforum # 94, Juni 2001