Free Rock, Free Folk, Free USA (Originalfassung)

Ein „anderes Amerika” wird herbeigespielt in der “befreiten Musik” von Jackie-O- Motherfucker, Sunburned Hand of the Man, Tower Recordings, Animal Collective, No- Neck Blues Band oder Six Organs of Admittance. Die Stücke sind meist so lang wie die Bandnamen und die Platten nur in kleiner Auflage erhältlich. Was hier vor allem zählt, ist die Haltung der Musiker – es geht um Autonomie, Kollektivität, Unbestimmtheit.

Es kommt immer wieder vor, dass die Berechenbarkeiten einer ebenso ausdifferenzierten wie komplett durchorganisierten Konsumenten-Popkultur durchbrochen werden. Sei es durch das prekäre Prinzip des Hypes, oder durch den latenten Diskurs der Geheimtipps, Sub-Undergrounds, Parallel-Universen. Diesem verdanken die zahlreichen Free Folk/Free Rock-Außenseiter aus den USA ihre Popularität in europäischen Spezialistenzirkeln. Aber auch der gegenwärtig beobachtbare Paradigmenwechsel trägt dazu bei: von Techno und Elektronik zu Rock, Reggae oder Songwritermusik; von der vermeintlichen Entsubjektivierung mittels Technologie zur vermeintlichen Authentizität mittels Performance; von der elektronischen Einsamkeit am Laptop zur kollektiven bzw. theatralen Aufführungspraxis. Vor allem amerikanische Musik hat in den letzten Jahren diesen Wertewandel in Europa stimuliert: Bands wie The Strokes und White Stripes, die Antifolk-Bewegung oder das aktuelle, von Acts wie The Rapture angeführte New Wave- Revival. Nicht zuletzt ist der nachhaltige Einfluss von Sonic Youth auf alle erdenklichen Rock-Avantgarden zu nennen. Mit deren Inszenierungen werden Fragen nach Verschwendung, Vermischung und musikalischer Freiheit neu konfiguriert. Es passt also ins Bild, wenn Lee Renaldo von Sonic Youth bei den vorsetzlich im öffentlichen Raum New Yorks – in Parks und auf Dächern – abgehaltenen Konzerten der No-Neck Blues Band mitjammt. Oder wenn Thurston Moore die an Urschrei-Therapie und ziellosen Krautrock erinnernden Improvisationen von Dredd Foole & the din an der Gitarre begleitet.

Jams und Freak Outs
Die „befreite Musik“ von Sunburned Hand of the Man, The Tower Recordings oder Ben Chasnys Projekt Six Organs of Admittance lotet ihr musikalisches Spektrum prozessual aus, nimmt sich alle Zeit der Welt oder ergeht sich in atmosphärischen Skizzen. Neben traditionellem Folk und Blues sind Einflüsse von The Grateful Dead, Incredible String Band oder Sun Ra’s Arkestra unverkennbar. Akustische Gitarren und diverse Percussionklänge, an rituelle Gesänge erinnernde Background-Vocals und ambientöse Drones bestimmen den Sound. Klassische Songstrukturen spielen ebensowenig eine Rolle wie die Ambition „zu rocken“ oder das perfekte Beherrschen der Instrumente. So steht hier Improvisation auch nicht für das Zusammenspiel individueller Könner, sondern für ein gemeinsames Vortasten und Ausprobieren. Forcierungen finden lediglich statt durch eine Intensivierung einzelner Parameter, immer wieder konterkariert von unbestimmten, richtungslosen Dudeleien, die eine Offenheit der Musik nach allen Seiten suggerieren.
Selbst der an Acid Mother’s Temple erinnernde Psychedelic Rock von Ben Chasnys zweiter Band Comets On Fire kommt trotz scharfem E-Gitarrensound keinen Millimeter von der Stelle – er wird bloß lauter oder leiser. Manchmal scheint diese Musik einen Trancezustand anzustreben, der den Musikern und Hörern kathartische Erlebnisse bescheren soll. Aber ihr ist es auch egal, wenn sie sich dabei verzettelt. Ein allseits anschlussfähiges Nicht-auf-den-Punkt-kommen ist das, worum es geht. Und darin gleicht die Musik dem ambivalenten Charakter von Poesie oder wuchernden Diskursen ohne publizistische Repräsentanz.

Wahnwitz und Gemeinschaft
Auch wenn dieses „Musizieren“ in erster Linie Selbstzweck ist, versteht es sich als wichtiges Gemeinschaft konstituierendes Moment, vor allem bei Livekonzerten und Festivals. Mit dem Sound ausufernder Folk- und Rock-Improvisationen kehren Haltung, Kollektivität und ein Ausdruck von Freiheit zurück auf die Bühne. In Interviews erklären die Musiker, wie wichtig der Zusammenhalt der über das ganze Land verstreuten Szene ist. Es ist eine Szene, die sich im weitesten Sinne als spirituelle Werte-Gemeinschaft charakterisieren lässt – verdrossen vom Politikverständnis amerikanischer Politiker und in
ausdrücklicher Anti-Haltung gegenüber dem corporate America. Gemeinschaftliches Musizieren in abwechselnden Formationen erscheint hier als kultische Handlung und steht für ein Gegenmodell: soziale Verbindlichkeit und die Sorge um Andere. Demnach zählt auch weniger das musikalische Endergebnis, wie es sich im Produkt des Tonträgers manifestiert – das würde nur der üblichen Konsumhaltung in die Hände spielen. Vielmehr geht es um das Starkmachen einer beweglichen Produzenten- und Austauschkultur. Der Charme des Unfertigen durchzieht denn auch die meisten dieser Platten. Wird der freie Folk-Rock bei Konzerten aber nicht von einem Gemeinschaftsgefühl getragen, dann verkommt er schnell zum Ambient-Sound oder zur Barmusik. So geschehen beim diesjährigen Konzert von Jackie-O-Motherfucker in Köln, wo sich die Botschaft der Musik im wabernden Klangstrom ihres Instrumentariums erschöpfte. – Mag man sich auch analoger und akustischer Instrumente bedienen, so ist die „befreite Musik“ dennoch informiert über die Errungenschaften elektronischer Musik. So erinnern das Vernachlässigen von Dramaturgie und Strukturierung sowie das Zeitmaß vieler Stücke eher an die experimentelle Elektronik der letzten Jahre als an die dramaturgisch recht konventionell gestrickten Rock-Updates der jüngsten Zeit. Dies wird vielleicht am deutlichsten beim Animal Collective aus Brooklyn, die u.a. das Kölner Sonig-Label zu ihren Einflüssen zählen. Ihr Album „Here Comes The Indian” zählt zu den wahnwitzigsten Veröffentlichungen des Jahres und bündelt in strukturiertem Chaos permanente Anfänge und Abbrüche, schamanistische Gesänge, Momente von “Stille” (Cage) und erhabenen Lärm, folkloristischen Techno, Elektro-Akustik und digitale Sound-Bearbeitung. Aus gutem Grund wird hier wie da aber eine längst überstrapazierte Ästhetisierung
„elektronischer Lebensaspekte“ gemieden. Das Animal Collective-Cover zeigt die Band im Gestrüpp eines Waldes. Und auf der aktuellen LP von Sunburned Hand of the Man findet man nichtmal mehr eine Web-Adresse, stattdessen aber den Hinweis: „Come on over sometime. We’re at 7 Sherman Street in Charlestown, Massachusetts.”

Animal Collective: Here Comes The Indian (LP Paw Tracks / Hausmusik ???)
Animal Collective: Spirit They’re Gone, Spirit They’ve Vanished / Danse Manatee (2 CD Fat Cat / Karbon) Comets On Fire: Field Recordings From The Sun (LP Ba Da Bing! / Import)
Dredd Foole & the din: The Whys Of Fire (CD Ecstatic Yod / Import) Jackie-O-Motherfucker: Change (LP/CD Textile / Import)
Jackie-O-Motherfucker: The Magick Fire Music / Wow! (2 CD ATP Recordings / Namskeio)
No-Neck Blues Band: Sticks And Stones May Break My Bones, But Words Will Never Hurt Me (CD Soundatone / Import)
No-Neck Blues Band: Intonomancy (CD Soundatone / Import)
Six Organs Of Admittance: dito (CD Holy Mountain / Revolver / Import)
Sunburned Hand of the Man: The Trickle-Down Theory Of Lord Knows What (LP Eclipse / Import) The Tower Recordings: Furniture Music For Evening Shuttles (CD Stiltbreeze Records / Import) The Tower Recordings: Folk Scene (CD Shrat Field Recordings / Communion / Import)

NZZ, 23.10.2003