„Digging“ statt Download (Originalfassung)

Plattenfirmen wie Honest Jons aus London oder Sublime Frequencies aus Seattle haben vorgemacht, wie man Popmusik vergangener Zeiten und aller Herren Länder mit attraktiven Compilations wieder aufbereitet. Mutig trotzen auch neue Labels wie Analog Africa, Soundway, Dust-to-Digital oder Mississippi Records der Krise der Musikindustrie und kreieren mit ihren Compilations einen Markt für Folk und Folklore aus der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts oder für afrikanische Popmusik der 70er Jahre – es ist die Ausweitung des Rare Groove-Prinzips auf die übrige Musik.

Rare Groove – im Kontext von HipHop und Acid House tauchte der Begriff zum ersten Mal Ende der 80er Jahre in Großbritannien auf. Wie schon Northern Soul in den 70er Jahren war auch Rare Groove ein reines Rezeptionsphänomen, bei dem es darum ging, obskure und längst vergriffene Funk-Platten der 70er Jahre wieder aufleben zu lassen.
Beschränkte sich der distinktionsträchtige Eifer der DJs, Produzenten und Sammler zuerst nur auf US-amerikanischen Funk im Stil von James Brown, rückten bald auch andere Genres ins Visier, sofern sie im weitesten Sinne „funky grooves“ bereit stellten. „Digging“
das „Ausgraben“ obskurer Vinylplatten in verstaubten Lagerhallen rund um den Globus
ist inzwischen zur echten Manie einer international vernetzten Szene geworden, gilt es doch als Ausweis echten Forschergeists. Und mittlerweile hat sich das Interesse auf fast alle globalen Popkulturen ausgeweitet. Haben sich genügend Schätze und Obskuritäten angesammelt, drängt man an die Öffentlichkeit. So basieren zahlreiche Musikblogs im Internet auf dem Rare Groove-Prinzip – hier lassen sich die Vinylfunde, vornehmlich aus den 50er, 60er und 70er Jahren und meist mit Aufsehen erregender Cover Art versehen, bestens zur Schau stellen. Aber solche Musikblogs fungieren nicht nur als Kuriositäten- Kabinett und Aushängeschild individueller Obsessionen. In vielen Fällen leisten die Blogger wertvolle kulturelle Arbeit, indem hier nämlich Musik archiviert und diskutierbar gemacht wird, die andernfalls im Geschichtsloch verschwände. Hinsichtlich der Archivierung afrikanischer Musik sind Blogs wie z.B. Awesome Tapes from Africa oder Voodoofunk, betrieben vom Berliner DJ Soulpusher, der hier detailliert seine musikalischen Exkursionen in Guinea dokumentiert, herausragende Beispiele.

Funky Grooves und Afrobeat
Auch der Frankfurter DJ Samy Ben Redjeb hätte sich mit seiner afrikanischen Rare Groove-Kollektion auf einen Blog beschränken können. Doch trotz Krise der Tonträgerindustrie trieb es ihn vor einigen Jahren zur Gründung des Labels Analog Africa. Mit der Hallelujah Chicken Run Band und den Green Arrows erschienen zuerst zwei Bands aus dem Simbabwe der 70er Jahre, kürzlich wurde die Kompilation „African Scream Contest – Raw & Psychedelic Afro Sounds from Benin & Togo 70s“ veröffentlicht. Der Name ist hier Programm, stehen doch die Aufnahmen der Vokal-Exzentrik eines James Brown und der Spielfertigkeit seiner Band The JBs um nichts nach. Beachtenswert ist aber vor allem Ben Redjebs kompilatorische Beflissenheit. Ausgiebige Recherchen in Benin und Togo ließen ein prallvolles Beiheft mit umfangreichen Linernotes, Fotos und Interviews entstehen, das eine ganze Ära dokumentiert und zum Leben erweckt. „Ich glaube, dass es physische Tonträger immer geben wird. Je besser das Booklet, desto größer die Chancen, dass es ein hochwertiges Produkt wird“, erklärt Ben Redjeb. Für den 37-Jährigen gehört die ganze Mühe einfach dazu, versteht er sich doch als Dokumentarist, der afrikanische Musikkulturen vor dem Vergessen bewahrt. In Zeiten, wo die grassierende Download-Kultur einen immer oberflächlicheren Konsumismus begünstigt, mag dies ein abenteuerliches Unterfangen sein. Aber „abenteuerlich“ ist auch Ben Redjebs bisherige „Digger“-Karriere verlaufen: In einem Hotel im Senegal, wo abends ausschließlich Charts-Musik lief, hat er als DJ angeheuert und erfolgreich Club- Nächte mit afrikanischer Musik veranstaltet. Später hat er einen Job als Flugbegleiter angenommen, um sich in Städten wie Addis Abeba oder Lagos en masse mit Vinyl zu versorgen. So entstand über die Jahre ein umfangreiches Repertoire, aus dem er heute Analog Africa bestreitet. Und im Gegensatz zu Bloggern, „die tonnenweise Musik von afrikanischen Musikern zum freien Download anbieten“, so Ben Redjeb, erhalten die Musiker über sein Label Tantiemen, da alle Stücke offiziell lizensiert sind.
Ein ähnliches, noch umfangreicheres Programm zwischen Afrika und Lateinamerika offeriert auch das Soundway-Label aus Brighton. Das Oeuvre Fela Kutis mag hinreichend dokumentiert sein, die breite Musikkultur Nigerias ist es nicht. In den 70er Jahren flourierte dort ein musikalisches Spektrum von Blues, Soul und Modern Highlife über Afrobeat bis zu psychedelischem Rock und Disco Funk. Auf den aktuellen Veröffentlichungen von Soundway („Nigeria Disco Funk Special“, „Nigeria Rock Special“) stehen gerade die musikalischen Hybride im Vordergrund. Trotz umfangreicher Booklets samt Foto-Galerien und editorischen Angaben wird Label-Chef Miles Cleret in den Liner- Notes zu „Nigeria Special“ aber nicht müde zu betonen, dass seine abwechslungsreiche Zusammenstellung keinen repräsentativen Charakter beanspruchen möchte, sondern rein subjektivisitsch sei. Kein Wunder, besaß doch Nigeria damals eine der größten Musikindustrien des Kontinents, der kompilatorisch nicht so einfach beizukommen ist. So bleibt auch bei Soundway Rare Groove-kompatibles Material ein vorrangiges Veröffentlichungskriterium für einen Markt, der schließlich weniger von musikethnologisch orientierten Käuferschichten als von der DJ- und Party-Kultur lebt.

Von Schellack auf CD
Im Jahrzehnt der Retro-Trends tragen Blogs und Compilations dazu bei, dass immer mehr historische Musik zugänglich wird. Nachdem die westliche Popmusik der letzten 50 Jahre fast umfassend aufbereitet wurde, rücken zusehends Musikkulturen anderer Kontinente ins Blickfeld. Neuerdings wird auch ein verstärktes Interesse an internationaler Roots Music aus der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts und dessen Speichermedium, der Schellack-Platte, deutlich. So hat sich Honest Jons aus London Zugang zum EMI Hayes Archive mit 150.000 Schellack-Schätzen aus dem Irak, Libanon, Iran oder der Türkei verschafft, um mit diesem Material eine großangelegte Kompilationsoffensive zu starten. Den Anfang macht im Mai „Living Is Hard – West African Music in Britain, 1927-29“. Auch Dust-to-Digital, ein Label aus Atlanta mit programmatischem Namen, hat sich der Schellack-Archäologie verschrieben und dabei erstaunliche, wunderbare CD-Compilations geschaffen. Als 4-CD-Box tritt „Art of Field Recording Vol. 1“ in die Fußstapfen von Harry Smiths legendärer „Anthology of American Folk Music“, die in ihrem editorischen Eifer vor 50 Jahren den Kanon des American Songbook mitbegründete. Weniger systematisch, eher wie mit persönlichen Favoriten bestückte Mix-Tapes muten dagegen Sampler wie „Black Mirror“ oder „Victrola Favorits“ an. Hier gibt es Musik aus Japan, Bali, Thailand, Persien, Griechenland, Spanien, Irland oder Schweden sowie alten Jazz, Blues oder Hillbilly – und beim Hören gerät man auf eine Zeitreise in die Welt von 1920 bis 1950, bei der man, ob der Vielfältigkeit und Grazie der Musik, aus dem Staunen nicht mehr herauskommt.

Vergangenheit kommentiert Gegenwart
Nach jahrelanger Konditionierung auf neue Sounds und Produktionsmittel in der Popmusik, sorgt nun das Alte, Vergessene und Obskure für Impulse. Für viele Ohren klingt es aufregender und geheimnisvoller als die ästhetischen Standards der globalen Entertainment-Industrie, vor allem bedient es eine Sehnsucht nach Mythenbildung.
Mutmaßlich wurde das Interesse aber auch geweckt durch die Selbst-Inszenierungen eines Bob Dylan, der nicht nur mit seiner „Theme Time Radio Hour“ dem mythischen American Songbook huldigt, oder von der amerikanischen Weird Folk-Szene mit ihrer Faszination für Roots Music aller Art.
Wie man den Impuls traditioneller Musik geschickt mit modernen Pop-Mechanismen verknüpft, demonstriert Mississippi Records aus Portland. Die Compilations mit altem Folk, Blues, Gospel, afrikanischer Musik, Cajun oder Calypso tragen Titel wie „I Don’t Feel At Home In This World Anymore“, „Life Is A Problem“ oder “What Are They Doing In Heaven Today” und beanspruchen in ihrer Sloganhaftigkeit einen direkten Bezug zu aktuellen Befindlichkeiten. Aufmerksamkeit erzeugt das Label auch durch die Tatsache, dass es ausschließlich auf Vinyl veröffentlicht und keine Werbung oder Website betreibt. Labelmacher Eric Isaacson gibt keine Interviews, und die Veröffentlichungspolitik zielt auf Überraschungseffekte. Mit Auflagen zwischen 500 und 1.000 Stück wird zudem für eine Nachfrage steigernde Knappheit des Angebots gesorgt. So umweht Mississippi-Platten von Anfang an die Aura eines „Sammlerobjekts“ – Raritäten von Beginn an, nicht erst
durch Dauer und Zerfall. Mit einer Strategie nach dem Motto „Willst du gelten, mach dich selten“ mag das Label sicherlich zur Selbstmythisierung beitragen, es opponiert aber auch gegen die Unverbindlichkeiten der Download-Kultur. Denn, ähnlich wie der Rare Groove-„Digger“, muss man sich nach „Mississippi“ engagiert im Einzelhandel auf die Suche begeben, um mit fantastischer Musik belohnt zu werden.

V.A.: African Scream Contest – Raw & Psychedelic Afro Sounds from Benin & Togo 70s (Analog Africa / Import)
The Green Arrows – 4-Track Recording Sessions (Analog Africa / Import) V.A.: Nigeria Special 1970-76 (Soundway / Groove Attack)
V.A.: Nigeria Disco Funk Special 1974-79 (Soundway / Groove Attack) V.A.: Black Mirror. Reflections in Global Musics (Dust-to-Digital / Cargo)
V.A.: Victrola Favorites. Artifacts from Bygone Days (Dust-to-Digital / Cargo) V.A.: I Don’t Feel At Home In This World Anymore 1927-48 (Mississippi / Import) V.A.: Life Is A Problem (Mississippi / Import)

NZZ, 16.05.2008