Die Kultivierung von Fehlern – Ekkehard Ehlers (Originalfassung)

Kaum ein anderer Elektronik-Musiker ist in den vergangenen neun Monaten so produktiv gewesen wie Ekkehard Ehlers. Mit der 12- und 7-Inch-Serie „Ekkehard Ehlers plays Robert Johnson; …Albert Ayler; …John Cassavetes; …Cornelius Cardew; …Hubert Fichte“ (erscheint im Februar 2002) huldigt er einflussreichen Größen aus Blues-, Jazz- und Avantgarde-Musik sowie aus Film und Literatur. Auf der Mini-LP von MÄRZ (zusammen mit Albrecht Kunze) und dem im April 2002 erscheinenden MÄRZ-Album wird Folkpop elektronisch neu definiert. Daneben hat Ehlers sein eigenes Label Whatness an der Schnittstelle von zeitgenössischer Avantgarde-Musik und Kunst lanciert (bisher mit Releases von Liam Gillick und Joseph Suchy), eine EP mit dem Titel „Harmolodic House“ veröffentlicht und nebenbei auch die auf MP3-Files basierenden Soundskizzen von Stephan Mathieus aktueller CD „Frequency Lib“ (Mille Plateaux) zusammengestellt.

1999 schlugen Ehlers elegische Soundwaves zum ersten Mal an hiesige Ufer, als er gemeinsam mit Sebastian Meissner das Projekt Autopoieses startete. Ihr Debut „La Vie À Noir“ (Mille Plateaux) bestand aus 45 einminütigen, störgeräuschästhetisch bearbeiteten Free Jazz-, Blues- und Barmusik-Miniaturen und ließ sich musikalisch irgendwo zwischen Curd Duca, Ultra Red und Terre Thaemlitz verorten. Wie bei diesen ist auch bei Ekkehard Ehlers ein zeitgenössischer Avantgardismus nicht ohne Rekurs auf Methoden und Ästhetiken der historischen Avantgarde zu haben. Es geht darum, „musikalische Archive als Ressourcen“ zu begreifen, wie es auf seiner CD „Betrieb“ (Mille Plateaux) von 2000 heißt. Dienten dort spätromantische Werke von Arnold Schönberg und Charles Ives als Ausgangsmaterial, zieren nun Größen wie Albert Ayler oder Robert Johnson und Konzepte wie Ornette Colemans Harmolodics die Platten des 28-jährigen Frankfurters. Dass sich in diesen Anverwandlungen auch eine große Sehnsucht nach einer radikal anderen Ästhetik und Produktionsweise jenseits von funktionalen Grenzen wie Club-Tauglichkeit oder Pop ausdrückt, bestätigt Ehlers im Interview. „Es ist eine Bezugnahme auf musikalische Traditionen des 20. Jahrhunderts, die auch meine eigenen sind, und hat viel mit meiner theoretischen Arbeit mit Musik zu tun. Die Ekkehard Ehlers plays…-Reihe hat natürlich auch etwas Pädagogisches, weil ich finde, dass zu viel sehr gute Musik zu wenig gehört wird“, erklärt Ehlers, der auch einen Lehrauftrag an der Stuttgarter Merz-Akademie für Gestaltung hat.

Referenzen als basale Struktur digitaler Musik
In den letzten Jahren ist es üblich geworden, elektronische Popmusik durch Sampling alter Popmelodien, Discostreicher oder Rockriffs mit Bedeutung aufzuladen und damit gleichzeitig eine historische Kontinuität wie deren Transformation unter neuen Produktionsverhältnissen anzudeuten. Oder man geht umgekehrt vor und spielt Kraftwerk, Gary Numan und Devo auf dem Midi-Klavier nach, wie etwa Terre Thaemlitz. „Warum man das macht? Weil man am Computer arbeitet. Es geht um Referenzen als eine basale Struktur von digitaler Musik. Wenn Leute am Computer Musik machen und sich dabei auf irgendwelche historischen Traditionen berufen, dann hat das etwas mit einem Scannen von Wirklichkeit zu tun, wie das auch bei anderen Speichermedien passiert. Die ganze Welt wird digitalisiert, man steht davor und versucht, das biographisch zu verorten. Genau das wollte ich thematisieren, aber konzeptioneller und offener gestalten, nicht nur als Ausweis persönlicher Prägungen. Deswegen gibt es ja auch die Texte auf den Platten, die über Ayler, Cassavetes und Fichte gehen und nicht über meine Musik“, erläutert Ehlers, dessen Referenzbaukasten nicht bloß aus Samples oder Loops besteht. In der „Ekkehard Ehlers plays…“-Reihe gibt es unterschiedliche Ansätze: „…plays Robert Johnson“ hört sich nach authentischem Johnson-Blues an, wurde aber tatsächlich auf der eigenen Gitarrenbaustelle prozessiert. Bei „…plays John Cassavetes“ erinnerst man sich fälschlicherweise einen obskuren Cassavetes-Soundtrack herbei, de facto erklingt ein Sample der bekanntesten Band der Welt.
Die „Cardew“-Single hingegen basiert auf Ausschnitten von zwei „Paragraphen“ aus „The Great Learning“ – einem Großwerk des linksradikalen, englischen Komponisten Cornelius Cardew.
Ehlers’ Hubert Fichte-Hommage klingt wiederum wie eine musikalische Topographie von Fichtes schriftstellerischen Exkursionen in die Karibik und durch St.Pauli. Und die Improvisationen auf
„…plays Albert Ayler“ wirken so, als sei das dominante himmlische Free Jazz-Geblase der Ayler- Brüder zugunsten des Begleit-Cellos suspendiert worden. Tatsächlich wurde hier jedoch kein einziger Ton gesamplet.

Prozessuale Improvisation und Fehler machen
Für seine Albert Ayler-Hommage hat Ekkehard Ehlers eine eigene Methode entwickelt. Eine Cellistin erhielt im Studio von ihm genaue Spielanweisungen. Was sie gepielt hatte, bekam sie über Kopfhörer wieder zugespielt. Dazu musste sie dann improvisieren – das Ganze viermal, so dass ein imaginäres Streichquartett entstand. „Die Grundidee dabei war, das Improvisatorische auszutricksen. Improvisatorisch heißt ja „für den Moment“ – wenn man aber immer wieder aufnimmt und vorspielt, dann ist ja das Speichermedium mit beteiligt. Der Ayler-Bezug entsteht also letztlich über eine Art prozessuale Improvisation“, erläutert Ehlers. Sich weniger an Moden unterworfenen Sounds orientieren, sondern von künstlerischen Methoden und Konzepten lernen
– dieses Prinzip kommt auch schon auf Ehlers „Betrieb“-CD zur Anwendung, wo die einzelnen Loops in ihrer Anordung und bezüglich ihrer Lautstärkeverhältnisse einem Zwölftonmusik ähnlichem System unterliegen. Ob Ekkehard Ehlers E-Musik verarbeitet, urbane Tanzflächen mit
„Harmolodic House“ versorgt oder bei MÄRZ sehr eingängigen, elektronischen Folkpop einspielt, stets geht es darum, nicht den gängigen Routinen der Genres zu folgen, stattdessen etwas auszuprobieren und „Fehler zu machen“, wie er immer wieder betont. Denn im Umgang mit perfektionierenden Musiksoftwares am Computer muss Kreativität anders definiert werden, als bei echten Musikern. „Letztendlich lautet die Frage: Wie bekommt man Soul in die Kiste? Indem man sie austrickst. Das läuft über künstlerische Verhaltensweisen, über das, was man sich ausdenkt, und nicht durch coole Plug-ins.“ Man kann nur hoffen, dass es noch Ohren gibt, die sich über nicht standardisierte Klänge freuen und die Seele des Fehlers erkennen – kein leichtes Hören.

Autopoieses: La Vie À Noir (CD Mille Plateaux) Ekkehard Ehlers: Betrieb (CD Mille Plateaux)
Ekkehard Ehlers plays Albert Ayler (Mini-LP Staubgold) Ekkehard Ehlers plays John Cassavetes (Mini-LP Staubgold)
Ekkehard Ehlers plays Hubert Fichte (Mini-LP Staubgold; Februar 2002) Ekkehard plays Robert Johnson (7-Inch Bottrop Boy)
Ekkehard Ehlers plays Cornelius Cardew (7-Inch Bottrop Boy) MÄRZ: One From The Heart (Mini-LP Karaoke Kalk)
Ekkehard Ehlers: Harmolodic House (EP Klang Elektronik)
Ein Album von MÄRZ erscheint im April 2002 auf Karaoke Kalk
Eine CD-Kompilation der „Ekkehard Ehlers plays“-Reihe erscheint im Mai 2002 auf Staubgold

NZZ, 24.01.2002