DIE KALTE BRATPFANNE DER GEGENWART – ROLF DIETER BRINKMANN (ORIGINALFASSUNG)

„Ich führe sie jetzt hier durch die kalte Bratpfanne der Gegenwart: Fotos, Filme, Notizen, Eindrücke – nichts stimmt mehr in diesem Scheißladen von Staat.“ Wenn man Rolf Dieter Brinkmann, neben Hubert Fichte der wichtigste und einflussreichste deutsche „Popliterat“ der 60er und 70er Jahre, so reden, rezitieren, fragen, flüstern, schimpfen, schreien hört, möchte man meinen, sein Geist sei immer noch lebendig. Auf den Originaltonaufnahmen Brinkmanns lebt die trostlose westdeutsche Realität von 1973 wieder auf, als sei sie noch gar nicht vorüber – so intensiv, so „da“, so ganz und gar der Erfassung eines gegenwärtigen Moments verpflichtet klingt seine Stimme. Es hat lange gedauert, bis Brinkmanns Witwe Maleen der Veröffentlichung dieser Aufnahmen aus Brinkmanns Nachlass, ausgewählt aus 29 Tonbändern, die der Kölner Dichter von Oktober bis Dezember 1973 für die Sendereihe „Autorenalltag“ des WDR aufnahm, zugestimmt hat. Die nun bei Intermedium unter dem Titel „Wörter Sex Schnitt.“ veröffentlichten fünf CDs dokumentieren einen Literaten, der keiner mehr sein wollte, am Rande der Verzweiflung und auf der Suche nach Schönheit, Zärtlichkeit, Sanfheit. Ausgestattet mit Tonband und Mikrofon begibt sich Brinkmann an die Arbeit und protokolliert die Hässlichkeit seiner Umwelt („überall Schnitte und Kontrollen – furchtbar!“), die eigene Skepsis gegenüber den Wörtern („Wörter sind gefräßige Tiere, sie halten einen von der eigenen Anwesenheit in einer Situation immerzu ab“; „kein Wort stimmt doch mit dem überein, was tatsächlich passiert“) oder seine Erfahrungen im Umgang mit Medien („Bullen vor die Maschinen gestellt“; „man wird beschnitten, eine Erfahrung zu machen mit den Geräten – keine Zeit, also keine Entwicklung“).
Eben diese notwendige Eigenerfahrung will Brinkmann aber vermitteln, so kratzt er ein ums andere Mal übers Mikrofon, verändert die Bandgeschwindigkeit, nimmt übersteuerte Geräusche auf oder montiert diverse Textsorten zu Cut-Up-Collagen. Wir hören monologisches Sprechen und Flüstern in der Wohnung und im Freien; Alltagsgeräusche; Rezitationen von Postkarten, Gedichten, Notizen; poetologische und psychologische Reflexionen; Gespräche mit Maleen und seinem Sohn Robert; Spontan-Interviews mit Passanten („wann haben Sie das letzte Mal gefickt?“); Party-Mitschnitte; Musik-Kommentare; lautpoetische Improvisationen; Telefonanruf-Aktionen und immer wieder Atmen. Es hat nicht nur eine ästhetische Funktion (roher Sound), sondern eine inhaltliche: „das stumme Atmen als Erzählen“; „der Tonfall als Erzählung“. Kein Wunder – Brinkmann wollte weg von der Allmacht der Wörter, die die Realität und die Körper bloß verstellen und zurichten. Das zu konkretisieren, dazu blieben ihm dennoch nur Wörter, die zu den kostbarsten und genauesten gehören, die sich hierzulande finden: „Ich hab immer den Eindruck, dass alle Wörter, die eine einzelne Person weiß, diesen einzelnen Körper in allen seinen lebendigen Bewegungen regiert und steuert. Und wenn diese einzelne Person auf ein anderes Wort trifft, das nicht mehr zu ihrem Wortschatz, zu ihrem Verhalten gehört, fängt sie plötzlich ungeheuer an zu tanzen und wird ganz wild und zerrt hin und her, und die Töne werden immer schriller und lauter. Und auch die ganzen Bewegungen und die ganzen Nerven fangen an hin und her zu tanzen. Ich finde das sehr erstaunlich, das anzugucken. Es ist mir so ganz unverständlich, dass das passiert, dass dieses passieren kann. Sie brauchten doch bloß alle Wörter zu vergessen. Und dann mal hinzusehen, was da ist. Und sich dann zu fragen, ob sie damit einverstanden sind. Ich kann mir nicht vorstellen, dass da jemand tatsächlich damit einverstanden wäre, was tatsächlich vorhanden ist.“
Die Alptraumsonntage, die toten Flüsse, das Muskelballett in verhärmten Gesichtern, all die Verbote – vieles von dem, was damals Brinkmanns Realitätswahrnehmung prägte, ist 30 Jahre später dem Gegenteil gewichen. Selbst der einst „miese Kölner Kackhimmel“ hat sich bunt angemalt. Die von Brinkmann auch in seinem (jetzt in erweiterter Neuausgabe bei Rowohlt erschienenen) Gedichtband „Westwärts 1 & 2“ oft bemängelte Leere und Verlassenheit von Orten und Situationen erfüllte heute, im Zeitalter von Eventstress und Sendeschlusslosigkeit, eine völlig entgegengesetzte Funktion der Entlastung und Besinnung. Ein Sensualismus als Waffe und eine Kritik der totalen Verdinglichung, wie bei Brinkmann, müsste sich also aktuell auf ganz andere Gegebenheiten richten – und wäre natürlich dringend notwendig. Trotz oder gerade wegen einiger Redundanzen und manch nerviger Verallgemeinerungen (Brinkmann betrieb zu dieser Zeit Medienaskese) rücken diese Aufnahmen von 1973 schon in die Nähe von Punk, insbesondere zu Cover und Texten der ersten Fehlfarben-LP „Monarchie und Alltag“. Auch hier galt das Motto: „Schön ist das nicht, was ich sehe; schön ist nicht, was ich höre; schön ist das nicht, was ich rede.“

Olaf Karnik

Aktuelle Veröffentlichungen von Rolf Dieter Brinkmann:
Wörter Sex Schnitt. Originaltonaufnahmen 1973 (5 CDs Intermedium Records)
The Last One. Autorenlesung Cambridge 1975 (CD Intermedium Records)
Westwärts 1 & 2. Erweiterte Neuausgabe, hg.v. Maleen Brinkmann (Rowohlt Verlag)

The Last One
Ebenfalls bei Intermedium erschienen ist jetzt Rolf Dieter Brinkmanns letzte Autorenlesung vom Cambridge Poetry Festival 1975. Gut zwei Drittel seiner Gedichte liest Brinkmann hier in englischer Übersetzung. Brinkmanns geile Stimme entschädigt für seine eher schlechte Aussprache – eine Tatsache, der er sich durchaus bewusst ist und die er deshalb gleich zu Beginn erwähnt. Auf Deutsch gibt es immerhin zwei seiner besten Gedichte: „Ein Gedicht“ und „Rolltreppen im August“. Nach Ende der Lesung blieben noch fünf Minuten für Fragen aus dem Publikum, die zum Glück mit auf der CD sind. Brinkmann gibt sich hier relativ optimistisch, kämpferisch und voller Tatendrang; Dichterlesungen in ähnlichen Kontexten wie Rockkonzerte fände er durchaus sinnvoll. Doch daraus wurde nichts – ein paar Tage nach Cambridge und nur wenige Wochen vor der Veröffentlichung von „Westwärts 1 & 2“ (seinem ersten Buch nach fünf Jahren) wurde Brinkmann in London beim Überqueren einer Straße von einem Auto überrollt.

Intro, 2005