Die Akte X der Weltmusik – Sublime Frequencies (Originalfassung)

Vor einigen Jahrzehnten haben Plattenfirmen wie Nonesuch Explorer, Ethnic Folkways oder Ocora damit begonnen, traditionelle Musik aus der ganzen Welt zu dokumentieren. In Fortführung dieser großartigen Unternehmung widment sich das amerikanische Indie- Label Sublime Frequencies seit zwei Jahren der historischen wie aktuellen Pop- und Folkmusik aus Asien, Afrika oder dem nahen Osten.

„Wir versuchen traditionelle und moderne Musik dieses Globus’ zu dokumentieren, aber wir fokussieren dabei Gegenden und Stile, die bisher ignoriert wurden. Es ist eine bewusste und aggressive Entscheidung, dass unsere Veröffentlichungen als Herausforderung wahrgenommen werden sollen – besonders von denen, die eher konservativ, akademisch gesinnt sind oder sich mehr Erklärung wünschen“, erklärt Alan Bishop, seit über 20 Jahren Mitglied des amerikanischen Avant Rock-Trios Sun City Girls und Gründer des Sublime Frequencies-Labels aus Seattle. Statt auf ausgiebige musikethnologische Erklärtexte oder detaillierte Information zu Instrumenten und Musikern verlässt sich das Label mehr auf die audio-visuelle Attraktion seiner Veröffentlichungen. Viele der Sublime Frequencies-Cover erinnern an asiatische Filmplakate aus den 60er Jahren, an knallbunte Cassettenhüllen aus den 80ern oder an verblichene und verfärbte Touristen-Photos. Auch folkloristische Motive und Kostümierungen oder Pop-Art- und Comic-ähnliche Bilder zieren die Hüllen. Schon das Design inszeniert sich als Hybrid zwischen westlicher Pop-Ästhetik, Folklore und Exotica – und setzt so die auf mittlerweile gut 20 CD- und DVD-Veröffentlichungen verteilten Klänge und Musiken aus Indonesien, Kambodscha, Thailand, Burma, Marokko, Syrien oder der lybischen Sahara bestens ins Bild. Zum breitgefächerten Programm von Sublime Frequencies gehören neben Kompilationen mit asiatischer Popmusik der 60er bis 80er Jahre auch atmosphärische Feldaufnahmen wie „Bush Taxi Mali“ oder „Night Recordings From Bali“, aktuelle Radio-Collagen aus Marokko, Palestina, Syrien, Indien oder Indonesien, sowie DVDs, die sich der filmischen Dokumentation folkloristischer Festivals und Zeremonien, Shows, Straßenmusik und anderer musikalischer Praktiken widmen.

Asiatische Hybride
Mit Kompilationen wie „Cambodian Cassette Archives“, „Folk And Pop Sounds Of Sumatra” oder “Molam: Thai Country Groove From Isan” hat das Label in letzter Zeit einige Aufmerksamkeit erzielt. Kein Wunder, gibt es doch hier Erstaunliches zu entdecken. Als ungeheuer vielfältig stellt sich beispielweise die Popmusik des indonesischen Archipels dar. Die auf zwei CDs verteilten Aufnahmen aus dem Sumatra der 60er bis 80er Jahre versammeln aufregende Kuriositäten – den von arabischer Orchestermusik beeinflussten Orkes Gambus-Stil, kurze hörspielartige Musikdramen voller Klagegesänge oder poppige Dangdut-Musik, in der sich asiatische und orientalische Melodik mit westlichen Pop-Instrumentarium und schwarzen Grooves vermischen.
Derartige Amalgamierungen sind bis heute üblich, wie man auf der Radio-Collagen-CD
„Radio Sumatra“ verfolgen kann: Hybride aus Techno, Ska und arabischen Gesängen, schiefe Micky Maus-Balladen oder Plastikpop-Drum’n’Bass flottieren hier durch Radiosendungen wie „Karaoke Hit Parade“ oder „Allah’s Hit Explosion“ (sic). Noch abenteuerlicher klingen die musikalischen Kombinationen des thailändischen Molam-Stils aus der ländlichen, nordöstlichen Region Isan. In den 70er und frühen 80er Jahren gehörten E-Gitarre und Bass, Schlagzeug, elektrische Orgeln, Bläser und allerlei Effektgeräte zur Grundaustattung des Molam-Sounds, neben traditionellen Instrumente wie Khaen, eine Mundorgel aus Bambus, oder die Laute-ähnliche Phin. Die häufig von Frauen in Rap-ähnlichem Sprechgesang vorgetragenen Stücke tragen alltagsrelevante Titel wie „Broken Hearted – So Let’s Dance“, „Husband Drunk, Wife Drunk“ oder gar
„Ganja Better Than Booze“. Und die Musik ist ein hyperkulturelles Gebräu aus Popmelodien, Wah-Wah-Gitarren, Afrobeat, Hörspiel-Drama und einer Folklore, die klingt, als hätte sie bei der Geburt der amerikanischen Minimal Music Pate gestanden. Man fragt sich, wie all diese verschiedenen Elemente in einen derart elaborierten, unvergleichlichen Sound einfließen konnten, ohne dass Länder wie Thailand von entsprechenden Migrantenkulturen beeinflusst wurden? Für Byung-Chul Han von der Universität Basel
wäre Molam wohl ein weiterer Beleg für die potentiell hyperkulturelle Verfassung fernöstlicher Kulturen. Wie Han in seiner philosophischen Abhandlung „Hyperkulturalität. Kultur und Globalisierung“ bemerkt, sei die fernöstliche Kultur im Vergleich zur europäischen innerlichkeitsarm. „Das macht sie durchlässig und offen. Aus demselben Grund entwickelt sie eine stärkere Neigung zur Aneignung und Veränderung, ja zum Neuen. Die Kultur des Fernen Ostens ist keine Kultur der Er-Innerung oder des Gedächtnisses.“ So haben heute eben Keyboard Workstations die einstige Vielzahl der Instrumente und Spielweisen ersetzt. Und Wertschätzung erfährt der facettenreiche Molam-Pop jener Zeit nur dank des dokumentarischen Eifers und der Sound-Obsessionen westlicher Labels wie Sublime Frequencies.

Exotica
Noch vor Dokumentation und Forschung kommt bei Sublime Frequencies allerdings eine subjektivistische „soulful experience“, wie es auf der Website (sublimefrequencies.com) heißt – eine unmittelbare Erfahrung der Klänge anderer Kulturen, die nicht schon durch die Musikethnologie in sichere Rezeptionsbahnen gelenkt ist. Dementsprechend gestalten sich die Liner-Notes des Labels weniger akademisch als anekdotisch, häufig fehlen detaillierte Informationen über einzelne Stücke oder beteiligte Musiker. Auch das Material der Kompilationen rekrutiert sich aus vermeintlich zweifelhaften Quellen: alten Schallplatten, Radio-Mitschnitten, Cassetten, die bei Reisen als Geschenke überreicht wurden oder zufällig im Archiv einer kalifornischen Bibliothek gefunden wurden, wie bei
„Cambodian Cassette Archives“. Besteht da nicht auch die Gefahr, dass die Veröffentlichungen als Exotismus klassifiziert werden? „Dass man das als Exotica versteht, haben wir bis zu einem gewissen Grad einkalkuliert. Dennoch enthalten manche CDs ziemlich viel Information. Anderen mangelt es daran, weil nicht genügend Infos zur Verfügung standen. Aber wir haben nicht den Anspruch als Experten oder informierte Vertreter aufzutreten. Indem wir das Geheimnis so belassen, wie es sich uns zu erkennen gab, können es diejenigen, die noch Ambitionen und Antrieb in ihrer Seele haben, selbst erforschen und ihre eigenen Entdeckungen machen – das ist ja sowieso die Essenz von Wahrheitsfindung. Das ist die Herausforderung, die wir all denen bieten, die Lust haben, zuzuhören oder hinzugucken.“

Kambodscha Remixed
Neben der phänomenalen Kollektion traditioneller, hochkomplexer Popmusik aus dem Burma der letzten 50 Jahre („Princess Nicotine“) zählen die Sampler mit historischem Pop („Cambodian Cassette Archives“) und aktuellen Radio-Collagen („Radio Phnom Penh“) aus Kambodscha zu den aufschlussreichsten Veröffentlichungen von Alan Bishops Label. Ähnlich vielschichtig wie Molam aus Isan, allerdings noch stärker von allen erdenklichen westlichen Sounds und Spielweisen geprägt, war die kambodschanische Popmusik vor und nach der verheerenden Verwüstung der Roten Khmer 1975-79. Nicht nur, dass fast sämtliche Popmusiker ermordet wurden, auch Tonträger und Masterbänder aus der Zeit vor 1975 wurden zerstört. So bleiben die außer Landes geschafften Aufnahmen der „Cambodian Cassette Archives“ eines der wenigen Dokumente kambodschanischer Pophochkultur, in der nach 1980 sogar Stile wie Reggae erheblichen Einfluss hatten. Nach dem Ende von Pol Pot und der anschließenden vietnamesischen Intervention hat die kambodschanische Musikindustrie die wenigen erhaltenen Aufnahmen alter Popstücke durch Remix-Verfahren am Leben gehalten: Schlagzeug, Rockgitarren oder Keyboards wurden über die Originalspuren gelegt, was sich auf „Radio Phnom Penh“ gut nachhören lässt. Heute stehen der kambodschanischen Öffentlichkeit allein diese Remixe zur Verfügung; Originale befinden sich, wenn überhaupt, im Besitz der zahlreichen kambodschanischen Emigranten. Wie diese aus der Not geborene Remix- Praxis im Grunde kennzeichnend ist für die gesamte kambodschanische Kultur, Gesellschaft, Ökonomie und Politik der letzten 50 Jahre, wird in den CD-Liner-Notes ausführlich erläutert. Ob Remix-Kultur oder faszinierende Stil-Synthesen – mit seinen Veröffentlichungen demonstriert das Sublime Frequencies-Label einmal mehr, wie unpassend der Begriff „Weltmusik“ letztlich ist. Rock, Pop, Rap, Techno und Reggae sind in Wirklichkeit die wahre Weltmusik, da sie den Globus dominieren und sich gleichzeitig mit nationalen oder regionalen Stilen zu Hybriden vermischen. Alan Bishop stimmt zu:
„Weltmusik ist nur ein kategorischer Begriff, um die Dinge für die Musikindustrie zu vereinfachen, die sich in erster Linie um populäre Musik kümmert, während alle anderen Facetten von Musik in den Hintergrund treten. Aber es sind die Kombinationen und Hybride aus den verschiedensten Ecken der Welt, die ein Beispiel geben, wie populäre Musik auf ein höheres Level befördert werden kann.“

NZZ, 14.07.2005