Bigband-Jazz und Soundpolitik – Matthew Herbert (Originalfassung)

Seit Mitte der 90er Jahre veröffentlicht Matthew Herbert unter Namen wie Herbert, Radioboy oder Doctor Rockit elektro-akustische Pop- und Dancemusik, die vielerlei Einflüsse kennt: Musique Concrète, Jazz oder John Cages Ideen zur Aleatorik. Die Politisierung von Sound, Produktion und Distribution zählt dabei zu den wichtigsten Anliegen des Londoner Musikers. Auf dem Album „Goodbye Swingtime“ huldigt er mit der Matthew Herbert Big Band nun dem Kollektiv-Gedanken großer Jazz-Orchester.

Warum ausgerechnet Big Band-Jazz? Matthew Herbert geht es wohl nicht darum, Distinktionsgewinne einzufahren. Eher ist es eine geheime Vorliebe, spielte Herbert doch schon als 13-Jähriger in einem Glenn Miller-ähnlichen Ensemble. Insofern erlaubt ihm die gegenwärtige Flaute elektronischer Musik einen Ausflug in die Anfangstage seiner musikalischen Betätigung. Nichtsdestotrotz mag es ein wenig verwundern, dass ein Pop- Avantgardist wie Matthew Herbert ausgerechnet auf Big Band-Jazz rekurriert – eine Musik, die gemessen an den Revolutionen des Free Jazz, harmonsich und rhythmisch recht konventionell strukturiert ist und heutzutage eher altmodisch wirkt. „Es ist eine große Herausforderung, ein Album mit 20 Musikern einzuspielen“, sagt Herbert. „Ich finde diesen Community-Gedanken sehr aufregend, politisch wie sozial. Unsere Gesellschaft wird immer selbstbezogener. Es geht immer mehr um individuelle Bedürfnisse. Das spiegelt sich auch in Musik, vor allem in elektronischer Musik wider.
Jeder sitzt allein am Computer zuhause und verfolgt seine eigene imaginäre Logik.“

Neue Improvisationsformen
Herbert bezieht diese Individualisierung aber auch auf den Jazz: „Seit Ende der 60er Jahre steht im Jazz nur noch die Improvisation im Vordergrund, es geht ums Individuum und seine Soli. Wenn man harmonisches Verständnis besitzt, versteht man jedoch nach einiger Zeit, dass Improvisation zu 95 bis 98 Prozent auf harmonischen Konventionen beruht. Davon kommt man nicht weg. Für diese Platte wollte ich einen Strich ziehen, ich wollte keine typische Improvisation. Improvisation fand eher statt im Kompositionsprozess, noch vor den Studio-Aufnahmen mit Musikern. Oder durch Zufälle bei der anschließenden Bearbeitung des eingespielten Materials am Computer. Die harmonischen Einflüsse auf der Platte reichen von Schönberg bis Duke Ellington.
Vielleicht klingt die Platte am Ende harmonisch nicht radikal genug. Aber es gibt sehr wenige Wiederholungen. Man hört eine Melodie sehr selten zweimal auf die gleiche Weise, auch die Arrangements sind von Takt zu Takt verschieden. Die Musik verändert sich andauernd.“ – Sie klingt jedenfalls nicht wie Musik, die es sich in der eigenen Formvollendung gemütlich macht. Die Suche nach neuen Möglichkeiten und Anschlüssen ist bei der Matthew Herbert Big Band ebenso spürbar wie die Verankerung in der Tradition. „Vorher hat man mich mit Zeitgenossen wie Squarepusher verglichen, jetzt sind Leute wie Count Basie, Duke Ellington oder Miles Davis der Maßstab. Ich muss mir der Geschichte und des Kontextes von Jazz schon bewusst sein. Aber ich glaube auch, dass die Platte für den Jazz wichtig ist. Denn es ist an der Zeit, dass Jazz elektronische Musik adaptiert oder zumindest deren Existenz wahrnimmt. Ich möchte damit einen Prozess in Gang setzen, bei dem versucht wird, neue Sounds entstehen zu lassen“, erklärt Herbert. Dass es ihm dabei keineswegs um die Fetischisierung und Propagierung eines Stils geht, stellt er deutlich klar: „Macht euer eigenes Ding! Es würde mir Angst machen, wenn dies der Beginn einer Big Band-Electro-Jazz-Crossover-Bewegung wäre.“

Politischer Kontext
Fast alle Sounds auf „Goodbye Swingtime“, die in den Linernotes detailliert beschrieben werden, „besitzen spezielle Bedeutung und politischen Kontext“, erklärt Herbert. Es sind vor allem Bücher von Noam Chomsky, Michael Moore und Antikriegs-Literatur wie
„Targetting Iraq“ oder „War On Iraq“, deren Klänge – beim Aufschlagen, Durchblättern, Lesen – von Herbert aufgenommen und mit der Musik verflochten wurden. Die politische Literatur fungiert als konzeptionelles Rückgrat des Albums. Aber auch Klänge von Londoner Antikriegsdemonstrationen werden einem Stück unterlegt, ebenso wie
Geräusche eines Computerdruckers. Dazu Herbert: „Bei ‚The Three W’s’ handelt es sich um eine ganz bestimmte Webside, die mit der School Of Americas verbunden ist. Das ist eine Art amerikanische Al Kaida, gesponserte Terroristen. Die Webside informiert über sämtliche Aktivitäten. Die gehörten Geräusche könnten der Ausdruck beliebiger Dokumente sein, sind es aber nicht. Es handelt sich um einen ganz bestimmten Ausdruck, der nicht anders klingen könnte.“ Seinen politischen Anspruch sieht Herbert noch auf weiteren Ebenen verwirklicht: „Die Texte handeln beispielsweise nicht von Liebe. Und es ist eine unabhängige Produktion – wir machen keine Werbung, kein Merchandising, wir touren ohne Sponsor.“

Radioboys Zerstörungswut / oder: Rhythmisierte Konsumgüter
Schon seit einigen Jahren gehört die Politisierung von Sound, Produktion und Distribution zu den wichtigsten Anliegen des Londoner Musikers. Mit dem PCCOM-Manifest hat er eine Sample-Ethik verfasst, die u.a. das Sampling bereits existierender Musik oder den Gebrauch von Presets bei Musik-Softwares strikt untersagt. Und als Radioboy hat er zuletzt auf der Bühne globalisierte Konsumgüter von McDonalds, Coca Cola, Nike oder GAP zerstört, um deren Klänge zu rhythmisieren und in aggressive Techno-Tracks zu transformieren. Die daraus entstandene CD „The Mechanics Of Destruction“ wurde nicht verkauft, sondern bei Konzerten an Fans verschenkt. Diese Art der Theatralisierung von Kritik und Widerstand hat sich für Herbert jedoch erstmal erschöpft: „50 Fernseher, 150 Big Macs – ich habe viel kaputt gemacht und hatte das Gefühl, mein Statement gemacht zu haben. Ab einem gewissen Punkt hatte ich das Gefühl, ich schaffe dadurch nur mehr Probleme. Was als eine persönliche Reaktion auf das Leben in einer gewalttätigen Gesellschaft begonnen hatte, wurde durch die permanente Zerstörungswut in gewisser Weise ad absurdum geführt. Aber als Projekt ist Radioboy noch nicht abgeschlossen. Der Krieg im Irak ist in dieser Hinsicht eine Herausforderung. Oder die Aktivitäten des CIA, der Haferflocken radioaktiv verseucht haben soll, um Versuche an geistig behinderten Kindern durchzuführen. Mein nächstes Stück wird auf jeden Fall davon handeln.“

The Matthew Herbert Big Band: Goodbye Swingtime (Accidental / ??)

NZZ, 22.05.2003