Aufstieg und Niedergang von Punk Rock (Originalfassung)

Das Gespensterkostüm des Punk Rock geht wieder um in Europa. Londons In-Restaurants sind voll mit Hipstern, die den einst provozierenden Kleidungsstil der Punks als neuesten Modeschrei vorführen. Auch vor deutschen Clubs und Discos warten junge Leute mit Nietengürtel und grellrot gefärbten Haaren, wie in der Werbung eines Telekommunkationsunternehmens, auf Einlass. 25 Jahre nach nach dem ästhetischen Sturm und anarchistischen Drang von Punk haben sich seine Zeichen und Symbole entleert. Sie stehen nur noch als Element popkultuller Distinktion zur Verfügung – eine Distinktion, die nur innerhalb des Systems Pop Unterschied macht, aber nicht mehr auf „Gesellschaft“ oder Politik bezogen wird. Oder etwa doch? Letzteres suggeriert Jon Savage im Vorwort zur Neuauflage und deutschen Erstausgabe von „England’ Dreaming“ – einer detaillierten und faktenreichen Studie über die Geschichte des Punk Rock, der Sex Pistols und der sozial-politischen Realität im England der 70er Jahre.Denn zu Anfang schildert Savage, geboren 1954 und seit 1977 als Musikjournalist tätig, wie die leeren Zeichen wieder aktuell mit Bedeutung aufgeladen werden. Als es nämlich im Mai letzten Jahres bei einer anti-kapitalistischen Demonstration in der Londoner Innenstadt zu Zusammenstößen zwischen 4.000 linken Demonstranten und 5.500 Polizeikräften kam, wurde das Denkmal Winston Churchills geschändet. Unbekannte Künstler setzten der nationalen Ikone der Nachkriegsära einen Irokesenschnitt aus feinstem englischen Rasen vom Parliament Square auf. Das war eine sarkastisch-aggressive Geste, wie sie für Punk typisch war. Churchill mit Irokesenhaarschnitt – das muss konservative Engländer an die moralische Erschütterung von 1977 erinnert haben, als die Sex Pistols, änlässlich des Thron-Jubiläums der Königin, ihre Single„God Save The Queen“ veröffentlichten. Und das war mitnichten eine Punk-Version der Nationalhymne, wie man das heutzutage von den Toten Hosen in Deutschland erwarten würde, sondern Krach mit staatsfeindlichen Content: „God save the queen… she ain’t no human being… God save the queen… the fascist regime…”Den Schlag ins Gesicht, nicht nur des politischen und kulturellen Establishments, sondern auch einer starren, desolaten und von hoher Arbeitslosigkeit gezeichneten Gesellschaft, zu dem die Sex Pistols, The Clash und viele andere damals ausholten, zeichnet Jon Savage in „England’s Dreaming“ Stück für Stück nach. In den frühen 70er Jahren beginnend, geht Savage zwar strikt chronologisch vor, doch, wie bei guten Romanen, entfaltet er ein Netz von Relationen und Bezügen, führt Charaktere ein, um sie zu verlieren und an gegebener Stelle wieder in die Geschichte zurück zu holen. Außerdem, und dies macht seine Nacherzählung so spannend wie ein klassisches Drama, wird das alptraumartige Ende der Sex Pistols und die baldige Zersplitterung der Bewegung in Sozialrealisten, Künstlertypen und konservative Rocker von Anfang an präsent gehalten – eine Zerfallsgeschichte, also.Wie ein roter Faden ziehen sich immer wieder Savages Reflexionen über das Verhältnis von Punk und Gesellschaft bzw. Kunst und Politik durch das Buch. Nach Maßstäben einer konventionellen Dramaturgie zieht er an den „richtigen Stellen“, d.h. in vertrauten rhythmischen Abständen, Resumeés, die immer auf einen aktuellen Zeithorizont bezogen sind: „Die Idee von Punk (…) kennzeichnete einen Prozess des absichtlichen Verlernens: eine neue Pop-Ästhetik, die Vergnügen fand am grundlegenden Barbarentum des Rock (…). So wie das Unbewusste angezapft werden sollte, so sollte auch die Zukunft durch die Vergangenheit herbei geführt werden. Die Wiederverwertung von Abfallprodukten, heute ein Gemeinplatz im Pop, hatte begonnen.“ Britischer Punk war, wie Savage immer wieder betont, nicht bloß eine nihilistische Haltung, die aus Abscheu vor Hippie-Macht und der Wut von Kids aus der Arbeiterklasse und Mittelschicht entstand; nicht bloß erruptive, gegen andere und sich selbst gerichtete Gewalt oder Selbstermächtigung von Chancenlosen, sondern ebenso ein künstlerisch-mediales Konzept, mit dem die gesamte Musik- und Medienindustrie heraus gefordert wurde. Besonders im Fall der Sex Pistols und ihres Managers Malcolm McLaren, deren Geschichte hier im Mittelpunkt steht.McLaren, der von Debord und den Situationisten beeinflusst war, bezog 1971 zusammen mit der heute renommierten Modemacherin Vivienne Westwood einen Laden an der 430 King’s Road in London. Auf der Suche nach subversivem Potential entwerfen die beiden einen Bricolage-Stil, der sich aus Versatzstücken der 50er und 60er Jahre, Fetischmode, Pop Art, Dada und auch SS-Uniformen oder Hakenkreuzmotiven als Provokation zusammen setzte. Die für Punk typische Polysemie nahm hier ihren Ausgang. Im Laufe der Jahre wechselte der Laden mehrmals Einrichtung und Namen, vor Gründung der Sex Pistols 1975 hieß er „Sex“. Jon Savage, der aus der Perspektive und mit dem Erfahrungswissen von jemand erzählt, der „dabei“ war, lässt keinen Zweifel daran, wer das Image der Pistols kreierte und all die skandalträchtigen Situationen im Fernsehen, bei Konzerten oder mit Plattenfirmen forcierte: „Als neue Generation waren die Sex Pistols eine sorgfältig abgestimmte Mischung aus Authentischem und Kontruiertem. Die Mitglieder der Gruppe verkörperten eine Haltung, die McLaren mit einem ganzen Set von Referenzen versah.“ Trotzdem beschreibt er die Sex Pistols nicht bloß als Marionetten eines gewieften Managers bzw. Konzeptkünstlers. Ausführlich schildert er wie einzelne Songs entstehen, wie sich die Verhältnisse untereinander und schließlich gegen McLaren entwickeln und wie die Gruppenmitglieder ab 1977 unter dem Druck, immer wieder Gewalt und neue Provokationen zu verursachen, zerbrechen: Rotten verlässt die Gruppe nach einem Konzert in San Franciso; der Heroin abhängige Sid Vicious wird des mutmaßlichen Todschlags an seiner Freundin Nancy Spungen angeklagt und setzt sich, zwischen Haft und Entzugsanstalt pendelnd, schließlich einen goldenen Schuss. Mit dem Posträuber Ronald Biggs in Brasilien als Gastsänger und dem Film „The Great Rock’n’Roll Swindle“ schlachtet McLaren den Mythos Sex Pistols zum Schluss noch so gut es geht kommerziell und medial aus. Der Rest ist eine Geschichte von Gerichtsprozessen.Jon Savage beendet seine Punkgeschichte 1979 – dem Jahr, als Margaret Thatcher die Regierung übernahm. Von nun an wurde alles anders: „Die Freiheit, die Punk nicht nur besungen, sondern in jeder möglichen Weise inszeniert hatte, war von der neuen Rechten gekapert worden und bedeutete etwas ganz anderes: Ungleichheit, die institutionalisiert und als leitendes kulturelles und soziales Prinzip etabliert wurde“. Und so geht das seitdem, nicht nur in England. Deswegen ist Punk auch ein Widergänger, ob als irokesierter Churchill oder in völlig neuer Form – denn, so Savage: „Die Geschichte wird von denen gemacht, die Nein sagen.“

JON SAVAGE
England’s Dreaming. Anarchie, Sex Pistols, Punk Rock Edition Tiamat, Berlin 2001, 544 S., 58,- DM

Literaturen, 2001