Rezension Simon Reynolds – Retromania

Simon Reynolds: Retromania. Pop Culture’s Addiction to Its Own Past. London/New York: Faber and Faber 2011. 496 Seiten.

Seit Hardt/Negris „Empire“ dürfte wohl kaum eine englischsprachige Veröffentlichung auf dem weiten Feld zwischen Kulturtheorie und politischer Philosophie ähnliche Aufmerksamkeit auf sich gezogen haben – was sich u.a. daran ablesen lässt, wie schnell Feuilleton und Fachpresse diesen Sommer und Herbst auf Reynolds’ Analyse des popmusikalischen Ist-Zustands eingestiegen sind. Nicht nur auf die Plausibilität von Reynolds’ Bestandsaufnahme mag das zurückzuführen sein, sondern auch darauf, dass überhaupt mal wieder „Relevantes“ mit allgemeingültigem Anspruch in Bezug auf Popmusik erklärt wird. Und zwar nicht aus dem damit professionell befassten Bereich Akademia, sondern von einem berühmten Musikjournalisten, der „mittendrin“ steht; der Blogs und Bücher, Feuilletons und Musikmagazine vollschreibt; der Bands, Labels, Clubs, DJs und Plattenläden nicht nur von Erzählungen kennt; der Popmusik und Szenestrategien zu lesen weiß; der sich in seinen Texten immer auch gefragt hat, was Musik mit der Welt oder Politik zu tun hat; der gleichermaßen als Generalist wie Spezialist überzeugt; der vor allem den Anspruch nicht aufgegeben hat, dass Popmusik das Größte seit Erfindung der Glühbirne sei.

Als ebendieser Modernist konstatiert Reynolds heute den Angriff der Vergangenheit auf die übrige Zeit, sprich: eine Retromanie, die die Popmusik seit Anfang des neuen Jahrtausends erfasst hat und ihre Zukunft verstellt. Die „Retroscape“ der Gegenwart ist nicht nur gekennzeichnet durch unzählige Band-Reunions und Tribute Bands, Revivals und Retro-Moden (die von Reynolds z.T. akribisch aufgelistet werden) oder die Musealisierung popkultureller Artefakte. Auch die endlose mediale Aufbereitung von Epochen und Dekaden (alles von den fünfziger bis neunziger Jahren…), künstlerischen Schaffensphasen (Bio-Pics aller Art) und subkulturellen Szenen (sogar über Northern Soul werden gegenwärtig Filme gedreht) oder die absurde Nachstellung denkwürdiger Pop-Ereignisse (z.B. Einstürzende Neubautens „Concerto for Voice & Machinery“ von 1984 im Londoner ICA samt perfekt choreographierter Publikumsausschreitung!) zählen dazu. Nicht zuletzt ist die aktuelle Musikproduktion in bis dato nicht gekanntem Ausmaß von raffinierten Simulationen und Updates aller erdenklichen historischen Genres oder Stile (Neo-Soul, Neo-Postpunk, Neo Synth Pop, Nu Rave, Neo-Folk…) geprägt.

An letzteres Phänomen hat man sich im Übrigen anscheinend so sehr gewöhnt hat, dass die Retro-Orientierung gar nicht mehr auffällt. So wurde z.B. anhand von Amy Winehouses Tod im Sommer 2011 in den Medien immer gleich das tragische Verhältnis von Person und Star-Persona reflektiert, nicht aber Winehouses symptomatischer Status: ein personifizierter oder besser: star-ifizierter Effekt des grassierenden Archiv-Fiebers.
Gekennzeichnet ist es übrigens nicht nur durch den obsessiven Nachbau eines spezifischen Sounds und Songformats der Vergangenheit (wie bei Winehouse und ihrem Produzenten Mark Ronson), sondern durch zahlreiche parallel laufende Entwicklungen: auf Rezipientenseite der Tendenz, sich über das MP3-Format eine gar nicht mehr zu bewältigende Fülle an Musikgeschichte auf den Rechner zu laden und sich ihrer im Beliebigkeitsmodus zu bedienen; auf Seiten der Labels durch eine unüberschaubare Flut an Re-Issues, Raritäten-Ausgrabungen und Schlaglichtern auf non-anglo-amerikanische Popkulturen; auf Seiten von Produzenten durch ein ebenso dreistes wie originelles Ausschlachten von Musik aller Epochen und Genres nach Maßgabe des just gewünschten Effekts. Man kennt es gut: Punk-Akkorde auf Disco Basslines, dazu HipHop Beats, Ethno- Samples und Dub-Effekte und alles noch mal mit Autotune frisiert. Nicht umsonst heißt der größte Star dieser Ära Gaga!

Archive Fever (in Anlehnung an Derrida) ist so ein schön-schillernder Begriff, der durch
„Retromania“ geistert und sofort „Klick“ macht, andere sind: Time Tourism, Hyper Stasis, Everywhere/Everywhen Pop, Atemporality, Digimodernism, Super-hybridity, und (nochmals Derrida!) Hauntology. Britische Hauntology von Boards Of Canada und William Basinski bis zu Ghost Box, Mordant Music und Leyland Kirby aka The Caretaker sowie ihren nordamerikanischen Verwandten Hypnagogic Pop bringt Reynolds als bedeutsame
Strategien im Umgang mit dem Archiv in Stellung. Zwar werden auch hier Sounds, Spielweisen, Stimmungen von gestern in die Gegenwart verpflanzt, jedoch mit einem spezifischen Konzept dahinter. Die von Hauntology und Hypnagogic Pop adressierte Vergangenheit ist gerade nicht Bestandteil des pophistorischen Kanons, erst recht kein Souvenir sub- oder gegenkultureller Geschichte. Sondern eine vergessene, ausgeblendete Vergangenheit voller nicht realisierter Zukunftsentwürfe oder Peinlichkeiten, deren Geister diese Musik zum Leben erweckt. Indem sie Erinnerung an Verdrängtes mobilisieren, funktionieren Hauntology und Hypnagogic Pop letztlich wie Psychoanalyse mit musikalischen Mitteln.
Zudem betonen beide Stile durch den Einsatz von Knistern, Rauschen oder Leiern der Aufnahmen gerade die Distanz zur Gegenwart – der antiquierte mediale Charakter (Vinyl, Cassetten) kommt zum Vorschein, der Sound klingt „alt“, Vergangenheit wird als vergangen kenntlich gemacht. Hier liegt ein entscheidender Unterschied zum „Nostalgie- Modus“ (Frederic Jameson) der Retromusik, die Vergangenheit Eins zu Eins im Modus der Gegenwart aufbereitet und auf diese Weise Geschichte auslöscht: Laien hören keinen Unterschied mehr zwischen echtem Krautrock der 70er Jahre und Lindstroems perfekter digitaler Simulation desselben.

Allerdings ist auch Retromanie, so sehr sie auch die heutige Popmusik beherrschen mag, nichts Neues. Reynolds Kapitel über historische Retrotrends sind ungemein erhellend, weil er in dialektischer Argumentation zeigt, wie Retro-Orientierung und Revival-Kulte spätestens seit den 60er (!) Jahren geradezu konstitutiv für die Entwicklung der Popmusik, die Identifikation ihrer Hörer und den Zusammenschluss zu Bewegungen sind. In diesem Zusammenhang erscheinen auch Reynolds Spekulationen über den Beginn der Postmoderne im Pop plausibel: Sie begann nicht etwa, wie es der Kanon will, mit Roxy Musics programmatischen „Remake/Remodel“ von 1972, sondern schon mit dem
„Weißen Album“ der Beatles (Adieu progressive Psychedelia, Hallo Rock’n’Roll, Hallo Kirmes-Reggae, Hallo Barock-Pop…).

Gegen Ende stellt Reynolds die Retromanie in einen größeren Rahmen, wenn er bei Pop- Moderne und Industriegesellschaft mit Produktion/Innovation die gleichen Prinzipien am Werk sieht, während post-industrielle Gesellschaft wie postmoderner Pop durch Postproduktion/Rekombination geprägt seien. Später mündet seine Argumentation sogar in die Gleichung ökonomische Rezession = Retrokultur.
Gegen ihre oberflächlich-unverbindlichen Vergangenheitsadaptionen huldigt Reynolds einer „reflexiven Nostalgie“, die sich ihrer historischen Referenzen und Reverenzen bewusst ist. Ob daraus freilich etwas ganz Neues, Anderes, im modernistischen Sinne Progressives entsteht, wird allerdings auch von Reynolds angezweifelt. Nur in einer ähnlich stark forcierten Absatzbewegung vom Bestehenden und dem Aufbruch in unbekannte Gefilde wie dies in den 60er Jahren, bei Postpunk, Rave und Techno der Fall war, sieht er eine Zukunft für Pop. Es könnte allerdings sein, so mutmaßt Reynolds an einer Stelle, dass sich die westliche Popmusik an ihr Ende erneuert habe und dass musikalischer Fortschritt bis auf Weiteres nur von Ländern der „dritten Welt“, von Indien oder China zu erwarten sei. Bei wachsender ökonomischer Prosperität und von autoritären Regimen beherrscht, seien dort viele Ideale der Moderne noch gar nicht verwirklicht – und in Popmusik könnten emanzipatorische Bestrebungen dort noch mal einen idealen Begleiter und ein „Sprachrohr“ finden. Kurz: auf der Basis von Popmusik könnten jugend- oder gegenkulturelle Bewegungen entstehen.

Und Bewegungen sind etwas, das all den neuen Genres und eindeutig nicht retro- orientierten Stilen, die einem trotz „Retromania“ aus der jüngsten Vergangenheit einfallen (Dubstep und Post-Dubstep, futuristischer R&B, Witch House, jamaikanischer Island Pop…), leider fehlen. Nicht umsonst stammt Simon Reynolds paradigmatische Platte der Nullerjahre also von jemand, der sich doch eher originell am Archiv abarbeitet
– von Ariel Pink. Sie heißt „The Doldrums“, auf deutsch: Die Flaute.

Olaf Karnik