Cunningham & Co. – Körperinszenierungen in Elektronikclips (Ausschnitt)

von Olaf Karnik

I love anatomy. I love the human form, I always have. That’s why I got into painting and sculpting, that’s why I became interested in prosthetics and why I make films about bodies. The one thing that was missing was sound. That is my favourite thing. As soon as I started playing with sound and music, that was it for me. I never thought you would be
able to top the feeling of sculpting or painting, but editing film and sound blows it away. 1

Musik Fernsehen Kunst Werk
Filme über Körper (die klassische Form des Musikvideos)…Skulpturen und Zeichnungen (wie in der bildenden Kunst)… was noch fehlte, war Musik (die ist eigentlich immer zuerst da und sucht zum Zweck ihrer Promotion im Musikfernsehen nach Bildern)… dann den Schnitt daran anpassen (Augenmusik) – und ab geht die Post für Chris Cunningham. Weg von der visuellen Dienstleistung für die Musikindustrie, hin zum Autorenfilm des Clip- Mediums – Cunningham ist in den späten 90er Jahren nicht allein auf dem Selbstermächtigungs-Trip. Er wird begleitet von so unterschiedlichen Clip- und Film- Regisseuren wie Spike Jonze, Michel Gondry, Jonathan Glazer, Hype Williams, Graw Böckler, Jonas Äkerlund, Rosa Barba, Antoine Bardou-Jacquet, Michel Klöfkorn / Oliver Husain, Mike Mills u.v.a. Fast immer ist es elektronische Musik, avantgardistischer Pop oder futuristischer HipHop, wo der neue Look wie angegossen passt. Ebenso wie fundiertes filmhistorisches Wissen und eine spezifisch subkulturelle Verankerung auf seiten der Regisseure helfen die rasanten technologischen Innovationen der bildgebenden Medien dabei, neue Bilderwelten, neue narrative Formen, neue Clipsprachen zu entwickeln. Klassische Performance-Videos sind out in den späten 90er Jahren. In einer Zeit, wo die Clip-Ästhetik zum Kunst- und Kurzfilm tendiert, zählt Cunninghams Performance-Clip für den Mega-Star Madonna („Frozen“, 1998) dann auch zu seinen eher uninteressanten Arbeiten. Wenn Performance, dann als asynchrones Ballett („Around The World“, Michel Gondry) oder unter der Bedingung verzerrter Körperproportionen und Raumperspektiven (Hype Williams in seinen Clips für Busta Rhymes oder Missy Elliott).
Narrative Clips dieser Zeit orientieren sich meist an Cartoons und Animés, wo die Körper schon seit eh und je auf fantastischen Reisen unterwegs sind, um Zeit- und Raumgrenzen zu überwinden. Die meisten Clips zu elektronischer Musik verzichten ganz auf die Inszenierung von Körpern und die Verwendung von Realfilm. Dies nicht nur, um der freudigen Verabschiedung des (Performer-)Subjekts in der elektronischen Musik auch visuell zu entsprechen, sondern auch aus ökonomischen (billig!) und techno-logischen (Zurschaustellung digitaler Ästhetik!) Gründen. Typisch sind abstrakte Bildwelten und computergenerierte Grafiken, Minimalismus und Experimentalfilm-Referenzen. Zu den beliebtesten motivischen Elementen gehören Landschaften, Detailansichten aus Architektur und Natur, Space-Ikonographien. Non-Performance bietet sich auch deshalb an, weil es mehrheitlich weder Songs mit Texten gibt, die es zu bebildern gilt, noch einen Sänger oder Star, der abzubilden wäre. Herausragende abstrakte Clips wie „Little Black Rocks In The Sun“ von Add (N) To X, Klöfkorn / Husains Garagentor-Ballett in „Star Escalator“ für Sensorama, Sebastian Kutschers abstrakte Design-Clips für Antonelli Electr. und Jan Jelinek oder die Visualisierung manipulierter Soft- und Hardware-Effekte in den Musikvideos von Oval stehen fortan in einer Reihe mit der historischen Filmkunst- Avantgarde des 20. Jahrhunderts – von Oskar Fischinger über Len Lye bis zu Bruce Connor und der Videokunst der 70er und 80er Jahre. Andererseits markieren Club Visuals, die im Club neben dem DJ auch den Video-Jockey ins Licht rücken, einen weiteren Bezugspunkt. Der alte Traum einer wechselseitigen und direkten Beziehung von Sound & Vision wird hier wiederbelebt, nämlich: die Töne und Bilder aufeinander zu beziehen, bevor sie fertig sind, sie miteinander entwickeln und wachsen zu lassen, sie bei 


 

1 so Chris Cunningham im Booklet, S.4, zur aktuellen Chris Cunningham-DVD The Work Of Director Chris Cunningham. A Collection of music videos, short films, video installations and commercials. Palm Pictures Directors Label / Black Dog / Warp / Labels / EMI Music 2003.


 

der Entstehung aufeinander abzustimmen.2 Dass man es mit abstrakten Bild/Ton- Kompositionen und digital verfremdeten Found Footage-Material schließlich bis in den Kinosaal und auf DVD schafft, zeigt die Kollaboration von Rechenzentrum / Lillevän (CD/DVD „Director’s Cut) oder aktuelle DVD-Veröffentlichungen wie die Club Visuals- Kompilation „DIN AV“.
Beim klassischen Musikvideo wird jedoch weiterhin auf die fertige Musik „im Nachhinein eine illustrierende, manchmal auch nur assoziative Bildplatte geknallt“.3 Wie der Produzent und die Musik-Software in der elektronischen Musik gelten Ende der 90er Jahre Clip-Regisseur und die Technik als Stars. Die Nouvelle Vague des Musikvideos findet im deutschen Musikfernsehen Verbreitung durch den flourierenden Spartenkanal VIVA II (während sie bei MTV auf Programmplätze in der Nacht verwiesen wird), sie findet ihren Platz in Museen oder bei den Internationalen Kurzfilmtagen Oberhausen, und
sie wird zum Anlass für eine siebenteilige, historisch und thematisch gegliederte Kosmologie des Musikvideos im öffentlich-rechtlichen Fernsehen (Fantastic Voyages, 3Sat/ZDF, 2000/2001).

Das war vor Jahren. Heute steckt die Musikindustrie in ihrer schwersten Krise – mit den entsprechenden Auswirkungen auf Budgets und künstlerische Strategien hinsichtlich der Produktion von Musikvideos. Spartenkanäle wie VIVA II wurden eingestampft, und die übrigen Kanäle des Musikfernsehens konzentrieren sich mehr denn je auf jugendkulturspezifische Entertainment-Programme statt auf abwechslungsreiche Clip- Menüs.
Avancierte Musikvideos werden immer noch produziert, man sieht sie allerdings kaum noch im Fernsehen. Ihre ursprüngliche Funktion, nämlich die Musik zu promoten, nehmen sie fast ausschließlich in Film- oder Kunstkontexten wahr. Wenn überhaupt. Denn der Film- und Kunstkontext ist das wahre Regime des Visuellen, wo die Musik zum bloßen Beiwerk degradiert ist. Das ist die wahre Revolution, die Regisseure wie Spike Jonze, Michel Gondry, vor allem aber Chris Cunningham, ausgelöst haben. Ihre Ende 2003 unter dem Directors Label veröffentlichten DVD-Kompilationen mit Einzel- Werkschauen tragen dem Rechnung. Gab es zuvor in der Regel nur Videokompilationen von Musikern zu kaufen – Ansammlungen diverser Clips von unterschiedlichen Regisseuren, die das visuelle Oeuvre von Bands und Stars dokumentieren – so rückt nun endlich der Clip-Autor ins Blickfeld. Leider sind Musikvideo-Pioniere wie Godley & Creme, Zbig Rybczynski, Jean-Paul Goude oder James Herbert heute weitgehend vergessen, während wir immer noch die von ihnen bebilderten Stücke von Herbie Hancock, den Pet Shop Boys, Grace Jones oder R.E.M. im Ohr haben.

Exkurs: Selbstvervielfältigung – Rock It!
„Zu dieser Zeit, 1984, schienen Musikvideos das beste zu sein. Denn MTV war gestartet, und ich interessierte mich schon immer für kurz, experimentelle Formen. Ich erinnere mich an ein Video, das Godley & Creme für Herbie Hancock gemacht haben, „Rock It“, das war ein großartiges Video. Ich liebe dieses Video, und ich sagte mir, Wow, solche Musikvideos sind großartig. Ich hielt es für die Explosion einer neuen Kunstform, denn alles schien perfekt zusammen zu kommen. Die Musiker waren so eine Art subversiver Teil der Gesellschaft, das junge Publikum, und es gab Geld und Budgets und eine neue Technologie, um Kurzfilme zu machen. Kurze Experimente, unverzügliche Verbreitung inklusive. Innerhalb von wenigen Tagen können Millionen Menschen es sich anschauen. (…) Und ich suchte nach Musikern oder Gruppen, die für Experimente mit der Videotechnik offen waren. Bei den Pet Shop Boys versuchte ich, sehr komplexe Aktionen darzustellen, wie zum Beispiel eine Person, die ein Objekt der eigenen Multiplikation, sich selbst sozusagen, überreicht. Die Vervielfältigung von Personen, von Räumen und Bildelementen ist eine sehr interessante Art, Geschichten zu erzählen“.4


 

2 vgl. Peter Weibel: Musik-Videos. Von Vaudeville zu Videoville, in: Veruschka und Gábor Bódy (Hg.): Video in Kunst und Alltag. Vom kommerziellen zum kulturellen Videoclip. Köln, DuMont 1986, S.27ff.
3 ebenda
4 Zbig Rybczynski in der Einführungsfolge von Fantastic Voyages. Eine Kosmologie des Musikvideos. 3Sat/ZDF 2000/2001.


 

Nicht nur Zbig Rybczynski hat Mitte der 80er Jahre in seinen Videos für die Pet Shop Boys („Opportunities“, 1986), Herb Alpert („Keep Your Eye On Me“, 1987) oder John Lennon („Imagine“, 1987) Körper, Räume und Bildelemente vervielfältigt. Die damals beliebte Blue Box-Technik ermöglichte derartige Trickserein, und zahlreiche Clips der 80er Jahre verschrieben sich bald einer Ästhetik der Verblüffung. Die in Rybczynskis Clip zu
„Opportunities“ präsentierte Selbst-Replikation der Pet Shop Boys ist ein Vorläufer des seriellen Narzissmus, wie wir ihn Ende der 90er Jahre vor allem in Cunninghams Clips, dort allerdings in unterschiedlicher dramaturgischer Funktion, wiederfinden. Auch Kraftwerk hatten in den 80er Jahren bereits ihre in Interviews, auf Konzertern und auf der LP „Die Mensch-Maschine“ (1978) demonstrierte Strategie der Selbstvervielfältigung mithilfe von Roboter-Puppen popularisiert. Wo immer Kraftwerk damals in Erscheinung traten, galt die reale physische Präsenz ihrer Körper als zweifelhaft. Es könnte sich ebenso um Roboter-Replikanten handeln, wurde gemunkelt.
Das Musikvideo der frühen und mittleren 80er Jahre war vor allem Schauplatz von Pop als Spektakel. Hier wurde die sogennante „postmoderne“ Ästhetik der Bricollage und des beliebigen Zitats aus Avantgarde-Kino und Filmgeschichte durchexerziert. „Anything goes“ bedeutete eine meist spielerische Inszenierung von Körpern in rasant wechselnden Kostümierungen, an unzähligen Schauplätzen und aus unterschiedlichsten Perspektiven. Im Sinne von Kraftwerk, Grace Jones, Pet Shop Boys, Depeche Mode, Duran Duran, Visage, Neuer Deutscher Welle und New Romantic war authentische Performance in realistischen Szenarien verpönt. Die Kreation von Kunstfiguren und künstlichen Environments, ebenso wie übertriebene Show-Inszenierungen, Surrealismus und Phantastik galten als ästhetische Strategien der Stunde. Und das meist unabhängig davon, ob sich „Künstlichkeit“ als Statement auch in der Musik wiederfand. Selbst Peter Gabriel ließ sich für „Sledgehammer“ 1986 von Stephen Johnson ein epochales Musikvideo produzieren, in dem Animations- und Legetechniken zur Anwendung kommen, die heute noch beeindrucken. Hier wie da wird der Körper zum Experimentierfeld für Phantasie und Technik, zur Projektionsfläche für Zeichen und Symbole, zum visuell arrangierbaren Material unter anderem.

Dennoch gibt es auch spezifische, körperpolitische Inszenierungen. Herbie Hancocks “Rock It” ist aus vielerlei Gründen ein Mega-Klassiker: neben Africa Bambaatas “Planet Rock” sorgte das Stück Anfang der 80er Jahre für den Transfer von Kraftwerks teutonischem Funk in die urbane Musik des schwarzen Amerika. Hier nahmen Hancocks scharfkantige Electro-Beats einerseits Einfluss auf die Weiterentwicklung von HipHop, andererseits auf das Entstehen von Detroit-Techno und dessen Ableger Electro. Den Clip zu „Rock It“ drehten 1983 Godley & Creme (Ex-Ten CC), die in den Anfangstagen des kommerziellen Musikvideos aufgrund ihrer technischen und ästhetischen Innovationen (z.B. Visages „Fade To Grey“, Duran Durans „Girls On Film“ oder Godley & Cremes eigenes Stück „Cry“, wo sie im Video die spätere, digitale Morphing-Technik antizipierten) einen ähnlichen Status besaßen, wie in der zweiten Hälfte der 90er Jahre Chris Cunningham, Spike Jonze oder Michel Gondry. Insbesondere „Cry“, mit dem DJ-Mix- ähnlichen Ineinander-Blenden unterschiedlichster Physiognomien wirkte wie eine genuine Visualisierung der damals virulenten Frage: Was ist eigentlich Identität?
Godley & Cremes Szenario bei „Rock It“ spielt im Einfamilienhaus einer weißen Mittelstandsfamilie. Alle Personen werden von roboterähnlichen Marionetten dargestellt, Herbie Hancock an seinem E-Piano erscheint nur als Fernsehbild im Wohnzimmer. Aber es ist Hancock, der die Puppen tanzen lässt: die synkopierten Electro-Beats, die kantigen Melodiepartikel und Scratchgeräusche steuern die rhythmischen Zappel-Bewegungen der Familie und suggerieren eine Synchronizität von Sound und Bild. Die Körper sind keine Performer-Subjekte mehr, sondern leblose, mechanisierte Wesen, die von Hancocks musikalischen Impulsen aus dem Fernseher belebt werden.
Einzigartig ist dieses Setting auch in Hinblick auf die historischen Unterschiede zwischen weißen und schwarzen Körperinszenierungen. Weiße Musik zeigt Körper in der Regel als pseudo-authentische (Rock), als künstlich stilisierte bzw. in Rollen (Pop) oder, indem sie einen Roboter als Ersatzkörper erfindet (Kraftwerk). Im Gegensatz dazu wurde in schwarzer Musik der Roboter oder Alien in der (Tanz-)Performance selbst verkörpert: von den Motown-Boy- und Girl-Groups, P-Funk und Prince über Michael Jacksons „Moon
Walk“ bis zu Missy Elliott oder Busta Rhymes. In „Rock It“ macht Herbie Hancock nun nicht mehr den „Monkey“, sondern verlagert ihn nach außen – in weiße Mittelstands- Marionetten. Das ist lesbar als frühes Zeichen für die kommende Vermischung schwarzer und weißer Körperbildnisse unter umgekehrten inszenatorischen Machtverhältnissen.

Was die Musikvideos der 80er Jahre jedoch von besagten Elektronik-Clips der späten 90er Jahre unterscheidet, ist, dass sie noch ganz im Dienst der Musik stehen und häufig als Performance-Clips getarnt sind. Erst Chris Cunningham mit seiner Kinematographisierung des Musikvideos ist es in vollem Maße gelungen, das Musik/Bild- Verhältnis neu zu justieren. Dadurch emanzipierte sich der Clip zum eigenständigen Werk. (…)